Neil Shubin: „Die Geschichte des Lebens“
Vier Milliarden Jahre Evolution entschlüsseltNeil Shubin: Die Geschichte des Lebens. Vier Milliarden Jahre Evolution entschlüsselt. Aus dem Englischen übersetzt von Sebastian Vogel. S. Fischer, 2021. (Original: Some Asssembly Required. Decoding Four Billion Years of Life, From Ancient Fossils to DNA.)
Nachfolgend eine Rezension von Reinhard Junker:
Inhalt
Das Evolutionsproblem
„Wie kam es in der Geschichte des Lebens zu großen Veränderungen?“ Diese auf S. 11 des Buches des Paläontologen Neil Shubin formulierte Frage ist die entscheidende Frage der Evolutionsbiologie. Der Autor möchte sie durch eine Kombination von Erkenntnissen aus Fossilien, Embryonen und Genen beantworten. Seine Grundidee veranschaulicht er mit einem Zitat der Dramatikern Lilian Hellman: „Natürlich beginnt nichts zu der Zeit, zu der man es glaubt“ (S. 16). Auf die Evolution der Lebewesen angewendet heißt das: Wenn neue komplexe Merkmale auftreten, sind wesentliche Voraussetzungen dafür bereits in Formen vorhanden, die diese Merkmale noch nicht ausprägen, also dort, wo man es nicht erwartet hätte. Und so endet das Buch: „Nichts beginnt da, wo man es vermutet: Vorläufer tauchen früher und an anderen Orten auf, als wir es uns vorstellen“ (S. 297).
Shubin erläutert eingangs ein grundlegendes evolutionstheoretisches Problem am Beispiel der Entstehung von Vierbeinern aus Fischen. Es „mussten sich praktisch alle Körpersysteme gleichzeitig wandeln“, was ein „Wechselspiel mehrerer hundert Neuerungen“ erfordere (S. 16). Wie soll das funktionieren? Diese kritische Frage ist so alt wie Darwins Selektionstheorie. Dessen Zeitgenosse St. George Mivart konstatierte die „Unfähigkeit der natürlichen Selektion, die Anfangsstadien nützlicher Strukturen zu erklären“ (S. 20). Shubin erkennt dieses Problem an. Um zu neuen Strukturen des Lebens zu gelangen „müssen sich ganze Kombinationen von Eigenschaften quer durch den Körper gemeinsam verändern“ (S. 21).
Selektion auf der Basis allmählicher geringfügiger Änderungen ist demnach als hauptsächlicher Evolutionsmodus nicht geeignet. Das sagt Shubin zwar nicht direkt, es geht aber aus seinen Ausführungen und aus seinen Lösungsvorschlägen für das genannte Problem hervor. Das heißt aber nichts anderes, als dass Darwins Mechanismus der kleinen Schritte keine Erklärung der „großen Veränderungen“ ermöglicht.
Shubins Lösungsvorschläge
Wie funktioniert es dann? Shubin stellt zahlreiche Forscher aus der Geschichte der Biologie vor, deren Entdeckungen ein Schlüssel für evolutionsbiologische Erklärungen sein könnten. In den meisten Fällen läuft die Lösung darauf hinaus, dass mit schon vorhandenen Genen oder Strukturen durch Neukombination Neues entstehen soll. Im Einzelnen:
- Dieselben Gene können bei der Ausprägung verschiedener Organe Verwendung finden. Beispielsweise ermöglichen die gleichen Gene die Ausbildung der Schwimmblase bei Fischen, die bei Menschen – wie auch bei manchen Fischen – die Lunge entstehen lassen (S. 31). Bei der Eroberung des Landes durch Vierbeiner musste also kein neues Organ – die Lunge – entstehen, sondern „nur“ die Funktion eines bereits vorhandenen Organs verändert werden. Viele Fische können Luft atmen und darauf konnten die Landwirbeltiere gleichsam aufbauen.
- Durch Veränderungen im zeitlichen Ablauf der ontogenetischen (individuellen) Entwicklungsvorgänge (Heterochronie) könne ein ganz neuer Körperbau entstehen. So sei der Vorfahr der Wirbeltiere durch frühzeitiges Stehenbleiben der Entwicklung einer Seescheide entstanden (S. 75); Merkmale des Larvenstadiums seien eingefroren und bis zum Erwachsenenstadium beibehalten worden (S. 76); dies sei auch durch DNA-Analysen bestätigt worden (S. 82). Auch bei der Entstehung des Menschen habe die Abwandlung bzw. Verkürzung des Entwicklungszeitplans eine wichtige Rolle gespielt (S. 79). Ebenso soll die Entstehung neuartiger Zelltypen nach diesem Muster gelaufen sein (S. 89).
- Die Entdeckung, dass unterschiedlich komplex gebaute Tiere sich in der Anzahl der proteincodierenden Gene nicht signifikant unterscheiden, führte neben anderen Befunden zur Vorstellung, dass neue Baupläne nicht durch zusätzliche Gene, sondern durch neue Verschaltung vorhandener Gene, insbesondere Regulationsgene, entstanden seien. Eine solche Neuverschaltung ermögliche ein plötzliches Auftreten neuer Körperteile. Evolution gehe auf Veränderungen von Ort und Zeit der Aktivierung von Genen während der Entwicklung zurück (S. 128). „Die vielen Zweige im Stammbaum des Lebens entstehen durch ein gemeinsames Werkzeugareal“ (S. 167). Große Umwälzungen in der Geschichte des Lebens seien also nicht zwangsläufig mit der Erfindung neuer Gene, Organe oder Lebensweisen verbunden. Beispielsweise kommen die Gene, die Säugetiere für ihre Hände und Füße benötigen, auch bei Fischen vor und sind dort an der Ausbildung von Knochen beteiligt, die am Ende des Fischskeletts sitzen: den Flossenstrahlen (S. 172f.). Ein anderes Beispiel: Proteine, die bei Tieren für den Aufbau des Körpers sorgen, gibt es auch bei vielen einzelligen Lebewesen. „Vielzelliges Leben ist nur deshalb möglich, weil Moleküle in neuen Kombinationen von ihrer ursprünglichen Funktion bei einzelligen Lebewesen zweckentfremdet wurden. Die großen Erfindungen, denen wir vielzellige Lebewesen verdanken, sind älter als die Vielzelligkeit selbst“ (S. 284).
- Ein schon lange diskutierter Mechanismus sind Genverdopplungen mit nachfolgender Abwandlung.
- Durch springende Gene können genetische Schalter sehr schnell an andere Stellen im Erbgut eingefügt werden, wodurch Gene ein- und ausgeschaltet werden können. Shubin spekuliert, dass die Aktivierung eines Regulationsgens, das selbst viele andere Gene aktiviert, zu koordinierten Veränderungen führen könnte (S. 218).
- Die Ähnlichkeit vieler Gene mit dem Erbgut von Viren führte zur Hypothese, dass ein größerer Teil des Erbguts aus gezähmten Viren bestehe, die in grauer Vorzeit zu einer Infektion geführt hätten, später aber ins Erbgut integriert worden seien, wo sie nun nützliche Funktionen ausüben. Ein Beispiel: „Dass wir lesen, schreiben und uns an die freudigen Augenblicke unseres Lebens erinnern können, verdanken wir einer vorzeitlichen Virusinfektion, die sich ereignete, als die Fische die ersten Schritte an Land unternahmen“ (S. 229). Auch hier geht es um Übernahme und Neuverwendung schon vorhandener Gene.
- Eine Art Zweckentfremdung diskutiert Shubin auch bei morphologischen Merkmalen und erläutert dies am Beispiel der herausschleuderbaren Zunge (Projektilzunge) bei Salamandern: „Zur Entstehung dieses komplexen biologischen Mechanismus entwickelten sich keine neuen Organe und noch nicht einmal neue Knochen. Stattdessen wurden alte Knochen und Muskeln zu neuen Zwecken verwendet“ (S. 247f.). Erstaunlicherweise sind Salamander mit besonders extremen Projektilzungen gar nicht eng miteinander verwandt; die Annahme einer mehrfach unabhängigen Entstehung ist daher unvermeidlich.
- Schließlich thematisiert Shubin die Endosymbiose, die Einverleibung von Bakterien in andere Zellen, wodurch die Mitochondrien, die „Kraftwerke“ der Zellen, und die Plastiden in pflanzlichen Zellen entstanden sein sollen.
Kritik
Die Vorgänge, die nach Shubin zu neuem Organen führen sollen, sind durchweg nur vage beschrieben bzw. rein hypothetisch. So zeigt die experimentelle Forschung zwar beispielsweise, wie durch Abschalten von Genen Körperteile verändert werden können. Ihre erstmalige Entstehung ist aber nicht einfach mit einem Anschalten dieser Gene beschrieben. Denn im Vergleich gesprochen: Ein Schalter (hier: Genschalter) ist nur ein kleiner, wenn auch essenzieller Teil des Geräts. Der An-Aus-Knopf erklärt nicht das, was durch seine Betätigung passieren kann.
Entsprechendes gilt für Zweckentfremdung vorhandener Gene, also für die Neuverwendung in einem anderen Kontext. Eine Neuverschaltung kann nur zu einer funktionalen neuen Struktur führen, wenn alles dafür Nötige bereits vorhanden ist, so dass nur noch „eingeschaltet“ bzw. „umgeschaltet“ werden muss. Woher kommen aber die nötigen nachgeschalteten Gene und Strukturen? Und selbst wenn diese in anderen Kontexten bereits Verwendung finden sollten, würden sie durch Verknüpfung mit einem Regulationsgen alleine noch lange nicht zweckmäßig neu zusammengeschaltet werden. Erfolgreiche Neuverschaltungen sprechen dagegen für bereits vorhandene, aber zuvor latente (abgeschaltete) Strukturen, mithin für Planung. Wie „die neuartige Nutzung uralter Merkmale“ es im Einzelnen evolutiv ermöglicht, „ein breites Spektrum der Möglichkeiten für die Nachkommen“ aufzubauen (S. 174), müsste an konkreten Beispielen im Detail gezeigt werden. Shubin schreibt: „Vorhandene Gene und Gen-Netzwerke können gewissermaßen aus der Schublade gezogen und so abgewandelt werden, dass bemerkenswerte neue Dinge entstehen“ (S. 174). Aber wie das auf evolutivem Wege funktionieren soll, thematisiert er nicht.
Auch Heterochronie erklärt nicht die Entstehung evolutiver Neuheiten. Zeitliche Verschiebungen in der individuellen Entwicklung der Teile eines Organismus wie z. B. vorzeitiges Stehenbleiben auf einem Embryonalstadium beinhalten an sich noch keine Innovationen. Das Neue müsste durch andere Prozesse erst noch hinzukommen. So sind beispielsweise beim Menschen mehrere hundert humanspezifische protein- und RNA-codierende Gene bekannt.
Ein zweiter Punkt: Der Vergleich von Gensätzen bei verschiedenen Gruppen von Lebewesen zeigt regelmäßig erstaunliche Gemeinsamkeiten. Oben wurden als Beispiel gleiche Gene genannt, die bei der Ausbildung von Flossen bei Fischen und von Fingern bei Säugetieren aktiviert werden. Als man die ersten Entdeckungen dieser Art machte, galten sie als große Überraschung. Aber warum gibt es diese Gemeinsamkeiten? Hier wird wie selbstverständlich Evolution angenommen, und die Befunde werden in diesem Deutungsrahmen interpretiert. Das ist natürlich kein Beweis dafür, dass der Deutungsrahmen der richtige ist.
Aber selbst wenn man Evolution hypothetisch zugrunde legt, folgt aus Ähnlichkeiten von Genen bei verschiedenen Lebewesen nicht die Existenz evolutiver Mechanismen, durch die diese Ähnlichkeiten zustande gekommen sind, z. B. die Ähnlichkeiten von Genen in Flossen und Beinen. Zudem müssen auch und vor allem die Unterschiede erklärt werden. Dasselbe gilt für mutmaßlich einverleibte Viren: Ähnlichkeiten an sich geben keinen Hinweis auf evolutionäre Mechanismen. Die hypothetische Einverleibung an sich kann auch hier nicht die Entstehung neuer Strukturen erklären; dafür müsste noch einiges mehr passieren. Dazu kommt, dass die mutmaßliche Einverleibung von gleichen Viren sogar öfter konvergent verlaufen sein soll (S. 231), also unabhängig bei verschiedenen Arten mit ungefähr gleichem Ergebnis – ein extrem unwahrscheinliches Szenario. Die Ähnlichkeit von Teilen des Erbguts von Vielzellern mit Viren-Erbgut könnte statt auf Einverleibung auch durch den umgekehrten Vorgang der Verselbständigung erklärbar sein. Hier gibt es sicher noch viel Forschungsbedarf.
Auch bei der Projektilzunge der Salamander macht Shubin es sich viel zu einfach, wenn er nur darauf verweist, dass keine neuen Bestandteile entwickelt werden mussten. Denn die neue Funktion erfordert komplexe Veränderungen: „… die Kiemenknochen wurden abgewandelt und zu Projektilen umgestaltet, und die Bauchmuskeln verwandelten sich in einen Federmechanismus, der das Projektil in den Mund zurückholen konnte“ (S. 249). Dies ist weit mehr als eine bloße „Zweckentfremdung“, sondern eine insgesamt aufwendige Neukonstruktion.
Ein weiterer Aspekt: Das Konzept der Übernahme und Neuverwendung schon vorhandener Gene oder Strukturen kann man nicht ad infinitum annehmen. Irgendwann mussten letztlich zahlreiche Gene und Strukturen, die später eine neue Verwendungen gefunden haben sollen, de novo entstanden sein. Und das muss viele Male geschehen sein, da es tausende von Genfamilien gibt, die so verschieden sind, dass sie nicht durch Genverdopplung auseinander entstanden sein können. Zudem sind 10-30 % der Gene eines Organismus sind sogenannte Orphan Gene („Waisengene“), die nur bei den jeweiligen Arten vorkommen.
Tieferliegende Regeln des evolutiven Wandels?
Die entscheidenden evolutiven Prozesse werden von Shubin nicht einmal ansatzweise genauer beschrieben. Das wird auch bei einem letzten Aspekt deutlich, der abschließend noch herausgegriffen werden soll.
Klassischerweise gelten seit Darwin gleiche Baupläne als Indizien für gemeinsame Vorfahren (Homologie-Argument). Aber es gibt hier ein Problem: „Wenn die Zungen der Salamander mit all ihren komplizierten Details unabhängig voneinander entstehen konnten, wie können wir dann jemals mit Sicherheit behaupten, irgendein Merkmal sei ein Beleg für Verwandtschaft?“ (S. 251). Shubin verweist in diesem Zusammenhang auf David Wake, der es mehr oder weniger aufgegeben hat, „Verwandtschaftsbeziehungen an der Anatomie ablesen zu wollen“. Wenn ähnliche Merkmale gleichermaßen auf Abstammung zurückgehen können oder unabhängig auftreten können, scheidet Ähnlichkeit als Indiz für gemeinsame Abstammung aus.
Shubins Lösung: Bestimmte Evolutionswege könnten vielleicht nicht dem Zufall unterliegen (S. 252). Möglicherweise gebe es „tieferliegende Regeln des Wandels“, „innere Einseitigkeiten, die aus dem Aufbau der Arten während ihrer Embryonalentwicklung erwachsen“ (S. 262). Diese Idee erläutert Shubin interessanterweise aber nicht anhand der Konvergenz der speziell gebauten Salamanderzunge, sondern am Beispiel des Verlustes von Fingern bei Salamandern, einem sehr viel einfacherem Vorgang. Beispiele, in denen es um Verluste geht, können aber niemals herangezogen werden, um evolutiven Neuerwerb plausibel zu machen! Für einen Neuerwerb kann man keine innere Disposition geltend machen, für Verluste schon. Welche innere Disposition soll die konvergente Entstehung der Salamanderzunge begünstigt haben? Shubin meint: Weil nahezu alle Tiere einen gemeinsamen Kernbestand von Genen zum Aufbau des Körpers besitzen, „eine gemeinsame Ausstattung mit Rezepten“, seien Mehrfachentwicklungen im Tierreich keine Überraschung (S. 262). Aber die Existenz gleicher Bausteine erklärt nicht, warum gleiche Häuser gebaut werden. Dafür wird ein Bauplan benötigt, und der zeugt von einem Architekten.