Eckard Volland: „Die Natur des Menschen“
Grundkurs SoziobiologieVerlag C.H. Beck, München, 2007 174 S., 18,90 Euro
Nachfolgend eine Rezension von Wolfgang B. Lindemann:
Die Soziobiologie erforscht die biologischen Grundlagen des Sozialverhaltens bei Tieren wie Menschen. Der Begriff „Soziobiologie“ wurde 1975 durch Edward O. Wilson geprägt. Heute liegen umfangreiche Ergebnisse dieser Disziplin vor, die der Professor der Biowissenschaften Eckard Voland (Gießen) allgemeinverständlich darlegen möchte. „Die Soziobiologie, die das soziale Tier im Menschen entdeckt hat, lehrt uns Skepsis vor allzu hochfliegenden Erwartungen an die Entwicklungsfähigkeit des Menschen: Der Mensch lernt nur, was er auch lernen soll, das heißt, er lernt das, was lange Evolutionsprozesse als lernenswert ausgewählt haben“ steht in der Einleitung zu dem 174-Seiten-Buch. Und weiter: „Menschliche Lebensvollzüge sind naturnotwendigerweise kulturell vermittelt. Eine nackte Natur will nirgendwo aufscheinen, nicht einmal bei solch spröden Angelegenheiten, wie Reflexe oder die Stoffwechselphysiologie es sind; selbst diese sind in kulturelle Gegebenheiten eingebettet (…) Die duale Sichtweise, die Natur und Kultur sich gegenseitig ausschließen lässt, lässt Natur nur dort zu, wo Kultur nicht ist und umgekehrt. Wer jeweils nur eine Perspektive auf den Menschen verfolgt, ist je nach Standort Biologist oder Kulturist und in jedem Fall einäugig, wenn nicht gar vollkommen blind, weil er nicht erkennt, dass gerade die Kultur des Menschen seine genuine, arteigene Natur ist. All das, was seine Kultur ausmacht – vom Beten bis zum Singen, vom Häuserbauen bis zum Frauenboxen –, sind Manifestationen dieser seiner Natur.“ Anders gesagt: Die Biologie ist die Grundlagenwissenschaft für Religion und Ethik, da sie deren evolutionäre Entstehung erklärt.
Dementsprechend sind die Themen des Buches, von denen einige der 18 Kapitelüberschriften einen Eindruck geben: „Blut ist dicker als Wasser“, „Die Goldene Regel – oder vom Nutzen des Guten“, „Ewig lockt der Hahnenkampf“, „Ehe“, „Bedingte Elternliebe“, „Wozu gibt es Großmütter?“ oder „Eine Naturgeschichte Gottes?“ Ein einziger roter Faden verbindet diese verschiedensten Fragen: Die Annahme, dass jede dem Überleben förderliche menschliche Fähigkeit oder Eigenschaft durch die Evolution entstanden sei, weil sie nützlich ist (oder früher war). Das ist zwar unter der Vorgabe einer allgemeinen Evolution folgerichtig, aber im gesamten Buch wird kein von diesem Grundschema unabhängiger Beweis dafür erbracht, dass dieses evolutionstheoretische Erklärungsschema zutrifft. Der rote Faden „es ist evolutiv entstanden, weil es nützlich ist“ ist der Schlüssel, um die Aussagen, die teils recht spekulativ oder sogar sachlich falsch sind, zu verstehen.
Zwei Beispiele: „Was immer Kunst und Religion auszeichnen mag, fiel bestimmt nicht einfach so vom Himmel, sondern die psychischen Bedingungen ihrer Möglichkeit kommen, wie jede menschliche Kompetenz, aus der Tiefe der Evolutionsgeschichte. Und das gilt auch für Religiosität und den Gottesgedanken als ihren essenziellen Kern (…) Und ebenso wie alle bekannten Sprachen scheinen auch alle bekannten Religionen eine gemeinsame Tiefenstruktur zu besitzen“ (S. 117f.). Das ist zumindest schon deswegen sehr spekulativ, weil man unter „Religion“ sehr Verschiedenes fassen kann, bis zur atheistischen Religion des Kommunismus mit quasi-göttlicher Verehrung der großen Führer wie Lenin und Stalin – samt öffentlicher Reden (wie Gebete anmutend!) an den abwesenden Stalin. Der Autor präsentiert auf S. 125f. sogar eine Statistik aus der Schweiz aus dem Jahr 2000, nach der die Angehörigen sämtlicher Religionen (Hinduismus, Islam, Buddhismus etc. eingeschlossen) eine zwischen 11 und bis zu 151% erhöhte Geburtenrate gegenüber areligiösen Schweizern besitzen. Dafür kann es aber viele Ursachen geben, die mit Evolution gar nichts zu tun haben.
Oder S. 127: „Warum eigentlich hat der Pfauenhahn ein solch prächtiges Schmuckgefieder? Es scheint alles andere als biologisch nützlich und daher Darwin und seine Vorstellungen offen zu verhöhnen (…) Nun, die Pfauenhennen wollen das so. Sie wählen nämlich die Väter ihrer Kinder nach deren Prachtgefieder aus, und die schönsten barocken Hähne sind die Gewinner.“ Doch warum sind ausgerechnet die Pfauenhennen auf eine solche „Vorliebe“ verfallen, während sie sich bei anderen Fasanenartigen offenbar nicht entwickelte, und was ist mit Darstellungsstrukturen wie die prächtig geschmückter Schmetterlinge, die keinem offenbarem Zweck mehr zu dienen scheinen?
Zusätzlich zu dieser „Brille“, durch die menschliches Verhalten gesehen wird, enthält das Buch eine Reihe von fachlichen Irrtümern: „Die egoistische Lösung eines Gewissenskonfliktes wird hingegen bezahlt mit einer Reihe von Kosten (…) Schande gehört hierzu, (…) Neurosen, etwa in Form von so genannten Konversionsneurosen, können entstehen, und schließlich kann ein schlechtes Gewissen zu psychotischer Depression führen“ (S. 30). In der heutigen Psychiatrie ist der Begriff „Neurose“ als Diagnose längst aufgegeben und die zweite Behauptung, ein schlechtes Gewissen könne zur psychotischen Depression führen, ist schlichtweg falsch. Die spezifische Eigenheit einer Psychose welcher Ausprägung auch immer ist gerade, dass sie ein qualitativ anderes Erleben hervorruft, das gerade nicht an den „Extremwerten“ des normalen Denkens und Fühlens liegt.
Oder S. 49: „Im Mittel müssen beide Geschlechter gleich viele Nachkommen haben – das geht wegen der zweigeschlechtlichen Fortpflanzung gar nicht anders –, aber die Varianz [die konkrete Ausprägung; WL] kann sich je nach Geschlecht enorm unterscheiden. Das ist falsch, da die Fortpflanzung fast ausschließlich von den Möglichkeiten der Frau abhängt und aktive „Bevölkerungskontrolle“ auf der Eliminierung von Frauen beruht (z. B. schlechtere Versorgung im Kindesalter oder gar aktive Tötung weiblicher Neugeborener). Voland widerspricht sich übrigens auf derselben Seite: „Frauen können niemals soviel Kinder gebären, wie Männer zeugen können“, und noch einmal auf S. 91: „Wo immer die nachgeburtliche Kindstötung kulturell legitimiert war (…) waren es mehrheitlich die neugeborenen Mädchen, denen man das Leben verwehrt hat.“
Der Autor verkennt auch auf S. 114f. die wichtige Aufgabe älterer Menschen, als „lebendes Lexikon“ und nicht nur unter Steinzeitbedingungen zum Überleben ihrer Menschengruppe beizutragen, indem sie durch ihre Erfahrung sich an Lösungen für nur selten auftretende Probleme erinnern und diese anwenden. Der Humanethologe Irenäus Eibl-Eibesfeldt spricht diesbezüglich vom „Altersprachtkleid“ (graue Haare etc.), das den Respekt der Jüngeren und damit die Bereitschaft zum Zuhören erzeugt.
Die Behauptung, ein Barockfürst, der auf sein persönliches Versailles verzichtet hätte, wäre über kurz oder lang an der Missachtung von Untertanen und Feinden gleichermaßen gescheitert“ (S. 133) ist historisch falsch, wie es z.B. das Beispiel von König Friedrich Wilhelm I. von Preußen (1688-1740) zeigt.
Auf S. 144 werden als die überkulturell, bei allen Menschen sich findenden Grundemotionen „Hoffnung, Verlangen, Glück, Vergnügen, Erleichterung“ und „Angst, Furcht, Trauer, Schmerz und Enttäuschung“ genannt. Die moderne Psychologie unterscheidet nur noch 4, evtl. 5, überkulturell gültige Emotionen: Angst, Freude, Zorn, Trauer und als 5. evtl. Scham, die bei allen Menschen gleich welchem Äußerem oder kulturellen Niveau vorkommen.
Es ist richtig, dass man in der modernen Psychologie vermutet, dass der Mensch eine Neigung zu bestimmten „angeborenen“ Ängsten hat, etwa vor Schlangen, Kreuzspinnen oder dunklen Höhlen. Dies ist aber noch nicht bewiesen, wie es Voland auf S. 146f. behauptet, und sachlich falsch ist die Aussage auf S. 147, Panikreaktionen mit allem, was dazu gehört, seien im Zusammenhang mit Autos völlig unbekannt: Der Autor dieser Rezension hat selber bereits erfolgreich verhaltenstherapeutisch einen Patienten mit Panikattacken während des Autofahrens behandelt. Schwerwiegend ist der Irrtum auf Seite 153f., dass ein naives, ungeprägtes Gehirn (wie das eines Säuglings) strukturell komplexer sei als ein geprägtes: Das genaue Gegenteil ist richtig; durch Lernprozesse werden hirnorganisch spezifische Prägungen z.B. in die Synapsenstärken der Nervenzellen des Gehirns eingeführt.
Fazit: Einerseits ein Buch, das, „gegen den Strich“ gelesen, zahllose Zeichen sinnvoller Verhaltensweisen des Menschen zeigt, die als schöpfungsgemäße Gaben interpretiert werden können. Andererseits – und das ist die „Botschaft“, die der an der Evolution nicht zweifelnde Leser erhält – wieder ein Buch mehr, das aufgrund von Befunden, die auch völlig anders deutbar wären, eine materialistische Weltanschauung suggeriert – jedoch eine Reihe recht handfester fachlicher Fehler enthält.
(Studium Integrale Journal, 16. Jahrgang / Heft 1 – Mai 2009, Seite 63 – 64)