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Albert Fleischmann: „Die Descendenztheorie“

Gemeinverständliche Vorlesungen über den Auf- und Niedergang einer naturwissenschaftlichen Hypothese
Leipzig: Verlag von Arthur Georgi, 1901

Nachfolgend eine Rezension von Michael Müller:

Über ein Jahrhundert alt und doch aktuell

Welche Einsichten kann ein wissenschaftliches Buch vermitteln, das im Jahr 1901 erschien? Was kann ein so altes wissenschaftliches Buch bieten? Die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind doch seither weit fortgeschritten!

Die Diskussion um Evolution oder Schöpfung wird oft schnell zur emotionsgeladenen Kontroverse. Deshalb kann es sehr aufschlussreich sein und sogar zum besseren Verständnis der heutigen Situation beitragen, wenn man die Zeit zu ergründen sucht, in der sich der Wandel der Weltanschauung so schnell und bahnbrechend vollzogen hat. „Niemals hat eine Idee in solchem Umfange und mit solcher Geschwindigkeit in der Wissenschaft Platz gegriffen“1 stellt Professor Reinke fest. Dieser grundlegende und wissenschaftlich begründete Wandel, von der bis dato weithin vorherrschenden Vorstellung einer geplanten Schöpfung, hin zur ziellosen und von vielen Zufällen ermöglichten Entwicklung der Materie und allen Lebens wirft interessante Fragen auf. War die Beweislage damals so überzeugend und zwingend oder spielten andere Faktoren eine entscheidende Rolle? Mit welchen Methoden setzte sich dieser Meinungswandel durch? Gab es wissenschaftlich begründete Gegenstimmen? Dieses alte Buch, welches eine solche Gegenstimme vorstellt, liefert zu diesen wichtigen Fragen interessante und wertvolle Denkanregungen.

Vom Anhänger zum Gegner der Entwicklungslehre

Gosses Bild

Ein Blick zurück in die Zeit des Übergangs vom 19. ins 20. Jahrhundert: Dr. Albert Fleischmann (1862-1942), Professor der Zoologie und der vergleichenden Anatomie an der Universität Erlangen, durchlebt einen erstaunlichen Wandel. Er wird vom begeisterten Anhänger der Entwicklungslehre zum entschiedenen Gegner. Seine Erkenntnisse beschreibt er im Buch „Die Descendenztheorie“, welches im Jahr 1901 erschien. Schon im Vorwort wird deutlich: Er war zunächst von der Entwicklungslehre begeistert und schrieb eine Reihe von Arbeiten dazu, aber es kommt zu einem vollständigen Richtungswechsel: „Allein je mehr ich mich in die vermeintlichen Beweisgründe derselben vertiefte und durch Spezialuntersuchungen positive Anhaltspunkte für die Stammesverwandtschaft der Tiere zu gewinnen suchte, um so klarer stellte sich mir die Erkenntnis heraus, dass jene Theorie eben doch mehr nur ein bestrickender, Ergebnisse und Aufklärung vortäuschender Roman sei, als eine auf positiven Grundlagen aufgebaute Lehre.“2

Fleischmanns grundlegender Einwand ist, dass die fossilen Belege für Evolution – die in Massen zu erwartenden Übergangsformen – komplett fehlen. Dieses Fehlen von Übergangsformen hielt Carl Vogt, ein wesentlicher Vertreter des naturwissenschaftlichen Naturalismus, schon 50 Jahre zuvor für das Hauptproblem einer möglichen Entwicklungstheorie. Auch Darwin sah darin einen erheblichen Einwand.

Ferner betrachteten die Anhänger der Abstammungslehre die vergleichende Anatomie als einen Evolutionsbeweis. Der vergleichende Anatom Fleischmann hingegen sieht darin genau das Gegenteil. Die strengen Grenzen, die die vergleichende Anatomie zwischen verschiedenen Tiergruppen beschreibt, sprechen gegen eine Umwandlung.

Professor Fleischmanns bemerkenswerter Wandel: vom begeisterten Anhänger der Entwicklungslehre zum entschiedenen Gegner.

„Die anatomischen Thatsachen verleiten uns also nicht direkt, an eine Umwandlung der Tierwelt zu denken, sie führen uns im Gegenteil strenge Grenzen innerhalb einer scheinbar unbeschränkten Mannigfaltigkeit vor. Der Formtypus der Wirbeltiere ist durch viele Eigenschaften scharf von den übrigen wirbellosen Tieren, die Insekten wiederum von den Krebsen und Gliederwürmern getrennt. Das Studium der Mollusken und Echinodermen bestätigt die gleiche Thatsache und würde ich noch die anderen 14 großen Gruppen des Tierreiches mit Ihnen durchsprechen, so würden wir zum gleichen Resultate gelangen.“3

Fleischmann gibt zunächst einen Überblick über die Typen des Tierreichs und die Baupläne der Gliedmaßen und stellt in den weiteren Kapiteln die konkreten Probleme dar. Im gesamten Buch setzt er sich auch immer wieder kritisch mit dem Werk Ernst Haeckels, dem mit Abstand einflussreichsten Verfechter und Propagandisten der Evolutionslehre, auseinander.

Beispiele von Fleischmanns Kritikpunkten

Zunächst geht Fleischmann auf den abstammungstheoretisch wichtigen Umbau der Fischflosse zur Fingerhand ein. Obwohl dieser von Haeckel und von Populärschriftstellern wie C. Sterne als eindeutig und bewiesen dargestellt wird, sieht die Realität ganz anders aus. Fleischmann beschreibt eine Kluft zwischen den Fischflossen und den Extremitäten der Amphibien. Dies belegt er auch anhand mehrerer Zitate von Anatomen, z. B. Professor J. Kollmann: „Die Frage, auf welche Weise aus der Brust- und Bauchflosse der Fische die fünfstrahligen Extremitäten der höheren Wirbeltiere entstanden seien, beschäftigt die Embryologie seit Jahren. Auf Grund weitgehender Untersuchungen wird angenommen, dass in der formenreichen Gruppe der Urselachier (Urhaifische) derjenige Fisch zu suchen sei, den die Natur einst durch verschiedene Zwischenstufen auf die Höhe eines Urmolches gehoben habe. …Aber alle Anstrengungen, den Weg zu finden, auf dem sich diese Umwandlungen vollzogen, sind bisher fruchtlos gewesen.“4

Die Lungenfische galten als eine willkommene Zwischenstufe, schienen sie doch ein passender Übergang zwischen kiemenatmenden Fischen und lungenatmenden Amphibien zu sein. Für Haeckel war dies ein überzeugender Übergang. Fleischmann weist jedoch auf die Notwendigkeit hin, den ganzen Organismus zu betrachten und sich nicht nur auf einzelne Organe zu konzentrieren. Dieser wichtige Hinweis ist bis heute hochaktuell. Dabei übersteigt es seine Vorstellungskraft, wie die Umbildung vom Fisch zum Amphib vonstatten gegangen sein soll, da auch die Untersuchung anderer Organe keine zwingenden Beweise erbracht hat. Er zitiert weitere Forscher, die zum gleichen Resultat kommen.

Dann geht er weiter, indem er die Unmöglichkeit der Ableitung der Reptilien von den Amphibien feststellt. Dies wird anhand eines Zitates von Gegenbaur, einem bekannten Vertreter der phylogenetischen Auffassung, verdeutlicht: „Ein weiterer Schritt der Vergleichung, ein Suchen nach den Stammformen bei einzelnen Abteilungen der lebenden Amphibien führt uns zu Hindernissen. Jedes genauere Eindringen deckt uns Verschiedenheiten auf, und die Prüfung der Gesamtorganisation der Vergleichsobjekte lehrt die Unmöglichkeit der Ableitung der Amnioten von jenen. So entsteht uns die Einsicht von der Unvollständigkeit auch der phylogenetischen Zeugnisse.“5 Der Befund des Fehlens geeigneter Übergangsformen wird hier von Gegenbaur also eingeräumt, aber mit dem Verweis auf die Unvollständigkeit der Fossilüberlieferung erklärt.

Über den Ursprung des Säugetierstamms schreibt Fleischmann, dass ursprünglich Beuteltiere als Stammgruppe angesehen worden waren. Doch die vergleichende Anatomie brachte viele Unterschiede zutage, so dass diese nun als Seitenast angesehen werden. In diesem Zusammenhang geht er dann auf die Kloakentiere (z. B. Schnabeltier) ein. Erneut ist ihm dabei wichtig, dass der ganze Organismus betrachtet wird und nicht nur einzelne Merkmale herausgepickt werden. So weist er auf die bestehende große Kluft zwischen den Kloakentieren und den vermeintlichen Vorfahren, den Reptilien, hin. So seien z. B. Haare, gleichmäßige Körpertemperatur und Milchdrüsen bei Reptilien nicht einmal ansatzweise zu erkennen. Fleischmann geht zwar auf die reptilähnlichen Merkmale des Schnabeltiers ein, z. B. Schädelform und pergamentschalige Eier. Nach seiner Meinung spricht dies aber weder für noch gegen eine phylogenetische Rolle der Kloakentiere. Die Abwägung der trennenden und übereinstimmenden Merkmale schränkt für ihn die Reptilien- und Vogelähnlichkeit stark ein.

Als weiteres Thema behandelt Fleischmann den Ursprung der Pferde. Diese werden in aller Regel als Paradepferd der Abstammungslehre betrachtet. Fleischmann vertritt auch hier eine völlig andere Meinung, selbst wenn er damit ziemlich allein steht. Er kann sich die Einhelligkeit, mit der seine Fachkollegen eine Pferdeevolution sehen, nur durch die leidenschaftliche Begeisterung für die Evolutionstheorie erklären – eine Begeisterung, die er kennt, weil er sie früher selbst teilte. Zwar lässt sich das Fußskelett gut in eine Entwicklungsreihe stellen, doch zeigen die Zähne und die Schädelform wiederum ein anderes Bild. Auch hier muss wieder der ganze Organismus betrachtet werden. Ferner beklagt er die Unvollständigkeit der vorhandenen Skelette, manchmal sind nur die Zähne bekannt und auf diese werde so sehr der Schwerpunkt gelegt, dass man glauben könnte, die Pferde hätten gar keine anderen Organe. Interessanterweise gibt es auch Forscher, die der Ansicht sind, dass die Pferde aus zwei vollständig getrennten Stammlinien entstanden sind. Fleischmann kritisiert im Zusammenhang mit der Pferdeabstammung auch die Verwendung einer widerspruchsvollen, verwirrenden Nomenklatur.

Ebenso ist die Situation bei den Gliedertieren (Krebse, Insekten, Würmer) höchst verworren. Selbst unter den Anhängern der Abstammungslehre gab es hier damals keine klaren Vorstellungen. Bei dem sich aus der phylogenetischen Wissenschaft ergebenden Stammbaum fühlt sich Fleischmann an folgendes erinnert: „Sie sehen aus diesem Schema, welches lebhaft an den auf Venus und Aeneas zurückführenden Stammbaum des Kaisers Augustus erinnert, dass die Stammesverwandtschaft der Gliedertiere weit entfernt, bewiesen zu sein, heute noch ganz in der Luft steht.“6 Die lebenden Gruppen seien anatomisch scharf getrennt, die Verbindungsglieder im Studierzimmer empfangen und geboren worden. Auch Peripatus könne nicht als die Urform der Insekten betrachtet werden. Es fehlen ihm die Gliederung des Körpers, die gegliederten Beine, das gegliederte Nervensystem, und die Exkretionsorgane sind anders gebaut. Um ihn als Vorfahren zu interpretieren, müssten wieder eine Menge ausgestorbener und völlig unbekannter Zwischenformen angenommen werden.

Ebenfalls schwierig sei es, einen gemeinsamen Vorfahren bei den Mollusken (Weichtieren) zu finden. Dabei handelt es sich um eine völlig isoliert stehende Gruppe. Hier gebe es nicht den geringsten Beweis, dass die Mollusken von anderen Tieren abstammen. Fleischmann zitiert Arnold Lang, einen anderen Vertreter der phylogenetischen Schule, der es so formuliert: „Wir wollen uns hier kurz fassen. Direkte Anknüpfungspunkte des Molluskenstammes an andere Abteilungen des Tierreiches sind zur Zeit nicht bekannt. Über den Ursprung der Mollusken steht subjektiven Ansichten Thür und Thor offen.“7 Haeckel hingegen redet hier mit den Laien verwirrenden Worten, um das komplette Fehlen dieser möglichen Vorfahren herum, er postuliert hypothetische Wesen, für die jeglicher positive Beleg fehlt.

Das gleiche Problem beschreibt Fleischmann für die Entstehung der Stachelhäuter (Seesterne, Seeigel und andere Formen). Niemand kann eine plausible Erklärung geben, wie die 6 Stilvarianten der Stachelhäuter aus einer gemeinsamen Urform entstanden sein sollen. Haeckel muss auch hier wieder auf eine der Phantasie entsprungene Stammform zurückgreifen. Fleischmann zitiert noch andere Vertreter, die die Isolation der Stachelhäuter klar beim Namen nennen und fasst es so zusammen: „Die Organisation der Echinodermen (Stachelhäuter) ist so eigenartig, so scharf geschieden vom Aufbau des Tierkörpers in anderen systematischen Gruppen, dass wir uns keine Vorstellung bilden können, aus welcher Urform sie sich herausgebildet haben.“8

Darwin hatte die fehlenden Zwischenglieder als erheblichen Einwand gegen seine Theorie gesehen. Er hatte gehofft, dass nachfolgende Forschergenerationen diese finden würden. Fleischmann kommt nach 40 Jahren Forschungsarbeit zum Ergebnis, dass sich diese Hoffnung mitnichten erfüllt hat, ja sie ist zerstört: „Die Kluft zwischen den systematischen Gruppen der Wirbeltiere gähnt groß und gewaltig. … Die Erwartungen, welche die Abstammungslehre vor 40 Jahren erweckte, sind bisher durch positive Resultate der phylogenetischen Erkenntnis nicht erfüllt worden. Also bin ich wohl berechtigt, von dem Zusammenbruch der Hoffnung, die Beweise für die Abstammung der Tiere jemals aufzufinden, zu sprechen. Wie sehr mich auch die Sehnsucht erfüllen mag, dem Abstammungsgedanken beizupflichten, immer fehlen noch die exakten Beweisgründe und alle Bindeglieder zwischen den kleinen und großen Abteilungen des Tierreiches, welche meinen zweifelnden Verstand zwingen könnten, ein Anhänger zu werden.“9

Der Autor verwendet in seinem Buch auch zwei Kapitel, um das Biogenetische Grundgesetz, den wichtigsten Evolutionsbeweis Haeckels, zu kritisieren. Fleischmann selbst war 10 Jahre Anhänger des Biogenetischen Grundgesetzes und hatte sogar jeden arg gescholten, der demselben nicht den Glauben schenkte. Durch das vergleichende Studium der Raubtiere und der Nagetiere kamen in ihm Zweifel auf. Nach weiterer Prüfung muss er seine bisherige Meinung revidieren und feststellen, dass dieses Gesetz zwar einen verlockenden Klang, aber keinen positiven Inhalt besitzt. Fleischmann geht auf Detailfragen ein, zeigt Absurditäten auf, die sonst von niemandem erwähnt werden. Zudem beobachtet er, dass im Laufe der Jahre immer mehr Ausnahmen zu Tage kommen, welche dann die „wirklichen Rekapitulationen“ überwiegen. Mit Zitaten weiterer Forscher belegt er die Unhaltbarkeit dieses Gesetzes.

Reaktionen der Kollegen und öffentliche Auseinandersetzung

Natürlich stößt Fleischmanns Kehrtwendung auf massive Kritik. Er wird des Rückschritts und der Wissenschaftsschädigung bezichtigt und es wird ihm gesagt, dass er sich viele Feinde machen wird. Dies nimmt er aber in Kauf, sein Anliegen ist es den Leser zu informieren. Er will es dem freien akademisch gebildeten Bürger ermöglichen, sich selbst ein Urteil zu bilden. Anders wiederum Haeckel und die Popularisierer der Abstammungslehre. Wenn jemand die neue Lehre nicht beifällig aufnimmt, wird er bezichtigt, ein Söldling der Priesterschaft zu sein. Eine bequeme Art, den Andersdenkenden das Urteilsrecht abzusprechen. Fleischmann stellt hier fest, dass der Dogmatismus, den man gerne den Theologen zuschreibt, in anderen Lebensbereichen und der Wissenschaft genauso vorhanden ist.

Neben seiner fachlichen Argumentation ist Fleischmanns Beurteilung des Zeitgeistes und der psychologischen Aspekte der öffentlichen Diskussion immer wieder sehr bemerkenswert. Er nimmt kein Blatt vor den Mund und findet deutliche Worte. Für viele Dinge, die im Namen empirischer Wissenschaft präsentiert werden, jedoch nicht angemessen belegt sind, findet er Ausdrücke wie: schönes Märchen, leere Spekulation, stammesgeschichtliche Spielerei, Phantasiegebäude, Wahngebilde, Verschleierung, Sagenwelt etc.

Mehrmals weist Fleischmann darauf hin, dass durch populäre Medien beim Laien leicht ein verzerrtes Bild entstehen kann und dieses sogar oft bewusst vermittelt wird. Der Nichtfachmann erhält durch oberflächliche Darstellungen oder Scheinbeweise falsche Eindrücke. Dies zeigt er anhand von konkreten Beispielen. Räumt Haeckel in Fachpublikationen den in hohem Maße lückenhaften und hypothetischen Charakter der Stammesgeschichte ein, klingt es in öffentlichen Vorträgen und populären Schriften ganz anders. Dort spricht er dann ganz selbstverständlich von gesichertem Wissen, welches nur noch von beschränkten Geistern angezweifelt werden kann. Ähnliches beobachtet Fleischmann auch beim populären Schriftsteller Carus Sterne. Anhand mehrerer Beispiele wird gezeigt, wie dieser ein falsches Bild vermittelt, um den Evolutionsgedanken zu popularisieren. Sterne beruft sich auf Fachleute und produziert dabei Aussagen und Bilder, die diese in diesem Sinne gar nicht gemacht haben. Z B. preist er Archaeopteryx als eine eindeutige Übergangsform an. Interessanterweise herrschte damals unter den Fachleuten diesbezüglich keinerlei Konsens. Archaeopteryx besitzt zwar Reptilienmerkmale, die sonst nirgends in der Vogelwelt vorkommen. Ebenso besitzt er aber auch ein voll ausgeprägtes Federkleid. Daher wird er von vielen Fachleuten als echter Vogel angesehen und nicht als Übergangsform anerkannt. Erstaunlicherweise betrachtet selbst Haeckel ihn nicht als Übergangsform, so dass er sich auch hier mit einer völlig hypothetischen Stammgruppe behelfen muss.

Fleischmann beschreibt die Leichtgläubigkeit, die die große Masse den stammesgeschichtlichen Erzählungen entgegenbringt. „Soweit ich die Menschen kenne, wird stets die größere Zahl derselben jener Darstellung zujubeln, welche Lücken der wissenschaftlichen Erkenntnis durch elegante Worte verschleiert, indem sie ihrer theoretischen Überzeugung zuliebe die Thatsachen so färbt und auswählt, dass sie wie Beweise ausschauen.“10 Diese Leichtgläubigkeit dürfte sicherlich großteils auf die damalige antikirchliche Geistesstimmung zurückzuführen sein. Eine ungeheuer große Zahl von Gebildeten ergreift ohne Zögern Partei für die Abstammungslehre, um sie als Waffe gegen die Geistlichkeit zu gebrauchen. Der Widerspruch zur mosaischen Schöpfungsgeschichte hatte eine unwiderstehliche Wirkung, ohne diesen hätte die Abstammungslehre nie so viele Anhänger gewonnen. Dass dieser Kampf öffentlich geführt und das Laienpublikum zur richterlichen Instanz gemacht wird, empfindet Fleischmann als Schädigung für die Wissenschaft.

Die Schilderungen Fleischmanns über die Vorgehensweise der Mainstream-Wissenschaftler und ihren Umgang mit Kritikern, über Diffamierungen und Unterstellungen erinnert einen lebhaft an die öffentlichen Auseinandersetzungen um Schöpfung und Evolution der letzten Jahre. Wenn man so will: Es gibt wieder einmal nichts Neues unter der Sonne.

„Die Descendenztheorie“, ein außergewöhnliches Buch: In vielerlei Hinsicht auch über 100 Jahre später noch aktuell, fachlich in der Begründung, eindrücklich in der Beschreibung des Zeitgeistes und der Methoden der Meinungsbildung. Es wäre sicherlich im Sinne Professor Fleischmanns, wenn sich der Leser selbst ein Urteil bildet. Das Buch kann online gelesen werden: http://archive.org/stream/diedescendenzthe00flei#page/n3/mode/2up

(Studium Integrale Journal, 19. Jahrgang / Heft 2 – Oktober 2012, Seite 125 – 128)

Anmerkungen


1 Reinke (1900) Die Entwicklung der Naturwissenschaften insbesondere der Biologie im 19. Jahrhundert, S. 17
2 Fleischmann A (1901) Die Descendenztheorie, Vorwort, erste Seite.
3 ebd., S. 200
4 ebd., S. 59. Heute sucht man die Vorfahren in anderen Gruppen.
5 ebd., S. 127
6 ebd., S. 144
7 ebd., S. 181
8 ebd., S. 185
9 ebd., S. 128
10 ebd., S. 129f.