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Ulf Linnemann: „Das Saxothuringikum“

Abriss der präkambrischen und paläozoischen Geologie von Sachsen und Thüringen
Staatliche Naturhistorische Sammlungen Dresden, 2004, 159 S. 175 zumeist farbige Fotos und Grafiken

Nachfolgend eine Rezension von Manfred Stephan:

Dieses Buch enthält Forschungsbeiträge, die darauf hindeuten, daß besonders die Hebungsprozesse in der Erdkruste im Bereich des sog. Saxothuringikums schnell abgelaufen sind (s.u.). Als Saxothuringikum wird eine Zone zum Teil sehr komplex gebauter Gesteinseinheiten bezeichnet; in Deutschland sind sie vor allem in Sachsen und Thüringen an der Oberfläche zugänglich (Name!).

Der Sammelband wurde von acht Geowissenschaftlern verfaßt und ist vorzüglich mit Fotos sowie farbigen Grafiken und Tabellen ausgestattet. Die Kapitel sind als ziemlich anspruchsvolle Übersichtsbeiträge konzipiert. Dabei verweisen die Autoren nicht nur auf eigene und fremde Forschungsartikel, sondern haben immer wieder zusätzliches, noch nicht veröffentlichtes Material eingearbeitet; das erhöht die Aktualität des Buches.

Es handelt sich um die erste Publikation im Rahmen eines Projekts des internationalen geowissenschaftlichen Programms (IGCP) der UNESCO und der Internationalen Union der Geowissenschaften (IUGS). Das Projekt ist der Plattentektonik-Forschung (Öffnung und Schließung eines Ozeans; Kontinentalverschiebung) im ausgehenden Präkambrium und frühen Paläozoikum gewidmet (6).

„Kollaps“-artiges „Zergleiten“ der Gesteinsdecken. 
Durch den Zusammenstoß des „Gondwana-Kontinents“ mit „Ur-Osteuropa“ während des Unterkarbons wurde in der Kollisionszone die Erdkruste zerbrochen und in einen viele Kilometer mächtigen Stapel übereinander geschobener Gesteinsdecken zerlegt, die bei diesem Vorgang tief ins Erdinnere versenkt wurden. Wie aus radiometrischen Altersdatierungen abgeleitet wird, soll sich der Deckenstapel 10 Millionen Jahre später bereits wieder in der Oberkruste befunden haben. Man spricht von vergleichsweise sehr rascher „Exhumierung“, also Heraushebung, bewirkt durch Auftrieb und aktiven tektonischen Druck. Früher hatte man für solche Vorgänge weit längere Zeiten angesetzt; jedoch gibt es sogar Hinweise, daß die Hebungsvorgänge noch wesentlich schneller abgelaufen sein könnten als mehrere Millionen Jahre (s.u.). – Es wird angenommen, daß der Hebungsprozeß mit der Auftürmung eines enormen Hochgebirges einher ging; dies wiederum bewirkte eine Instabilitätsphase der Erdkruste. Diese Phase endete mit einen „Kollaps“; d.h. die zuvor rasch herausgehobenen („exhumierten“) Deckenstapel glitten nun voneinander ab – etwa so, wie eine dicke Sahnetorte zerfließt. Bei diesem (wie angenommen wird, langsamen!) „Zergleiten“ rutschten die Decken, u.a. der Schwerkraft folgend, vom Hebungszentrum im Raum des heutigen Tschechien nach Nordwesten. In Sachsen und Thüringen kamen sie wie herausgerissene Blätter eines Buches in verkehrter Reihenfolge zum Stillstand, d.h., in einer anderen Stapelungsabfolge als ursprünglich (s.u.). Durch diese Gleitbewegung entstanden große, bis heute landschaftsprägende Störzonen wie die Fränkische Linie hinter Bayreuth und die Elbezone bei Dresden. Weiter nach Nordwesten werden die tektonischen Beanspruchungen der Gesteine schwächer; der komplexe Deckenstapel-Bau geht im Thüringischen Schiefergebirge in einen einfacheren Faltenbau über (24f., 144-149).

Gründe für die Hypothese rascher Heraushebung – rätselhaft wie in den Alpen. 
Weshalb wurde diese komplexe, hochgradig hypothetische Vorstellung mit ihrem nur zum Teil verstandenen Ablauf von Deckentransport, Versenkung, Heraushebung und „Zergleitung“ entwickelt? Es werden damit u.a. die bei der heutigen Stapelungsabfolge nicht zueinander passenden Umwandlungsgrade (Metamorphose) der verschiedenen Gesteinskomplexe des Erzgebirges erklärt (142; s.o.): Unten eine Mitteldruck-Mitteltemperatur-Einheit, darüber ein höhermetamorpher Hochdruck-Hochtemperatur-Komplex (!), und ganz oben folgt eine Mitteldruck-Niedrigtemperatureinheit (24). Teile des Erzgebirgs-Deckenstapels waren also zunächst extrem tief bis in über 100 km Tiefe versenkt worden (Ultrahochdruck-Metamorphose; Drücke um 29 kbar); dabei entstanden sogar Mikro-Diamanten (23f., 26f., 141f.). Besonders interessant ist: Der Mineralbestand belegt, daß der Kern des Granulitgebirges durch Deckenüberlagerung ca. 70 km tief versenkt worden sein muß (Erhitzung auf über 1000°C bei Druck um 22 kbar). Der Gebirgskern wurde jedoch so schnell wieder als immer noch sehr heißer (!) Festkörper herausgehoben, daß er eine hitzebedingte Gesteinsumwandlung (Kontaktmetamorphose) im oberen Krustenstockwerk bewirkte (25f., 142f.). Auch bei den ähnlich komplexen Grundgebirgseinheiten im angrenzenden Tschechien werden rasche Vertikalbewegungen angenommen (z.B. sprechen Zulauf & Vejnar [2003] von „Fahrstuhltektonik“). Im einzelnen gibt es jedoch zwischen den einzelnen Hypothesen und Regionen erhebliche Widersprüche und Probleme.

Vergleichbar tiefversenkte Gesteine und Hochdruck-Mineralien kennt man bereits seit 1985 aus dem westalpinen Dora-Maira-Massiv. Hölder (1989, 152) formuliert dazu eine Problemanzeige; sie dürfte ebenso für Hochdruck-Einheiten des Saxothuringikums gelten: „Wie sie es geschafft haben, den Rückweg zur Erdoberfläche ohne erneute Umwandlung, nämlich Anpassung an die veränderten Druck- und Temperaturverhältnisse zu überstehen, ist ein noch ungelöstes Problem.“ Es drängt sich die Frage auf, ob ein noch wesentlich schnellerer Exhumierungsprozeß als mehrere Millionen Jahre zur Lösung beitragen könnte. Denn bei einem wirklich raschen Aufstieg wären die Gesteine nur kurzzeitig anderen Druck- und Temperaturbedingungen ausgesetzt gewesen. Bei längerer Einwirkung hätten diese Bedingungen zu erneuter Umwandlung der Minerale führen müssen.

Auch viele Sedimente passen gut ins Bild schneller Prozesse.
Erweist sich die Entstehung der metamorphen Grundgebirgseinheiten als vergleichsweise sprödes Forschungsgebiet, so ist die Bildung vieler Sedimentgesteine des Saxothuringikums im Gelände leichter nachzuvollziehen. Zahlreiche Sedimentfolgen zeigen Merkmale sehr rascher Ablagerung. Zum Teil ist die Entstehung der Schichtgesteine direkt mit den tektonischen Bewegungen verknüpft. Das gilt besonders für die Riesenblöcke, die von der Front abgleitender Überschiebungsdecken (s.o.) abstürzten und im feinkörnigen Sediment liegen blieben (Olistolithe; Wildflysch). Weiter gilt dies für die teilweise im engeren bis weiteren Vorfeld der gleitenden Decken geschütteten, auffällig häufigen Ablagerungen untermeerischer Trübeströme (Sedimentlawinen bzw. Turbidite), u.a. Grauwacken. Aber auch abgesehen von den genannten tektonischen Bewegungen entstanden oft Geröllpackungen (Konglomerate) oder mächtige Schichtfolgen mit hochenergetisch entstandenen Beulenrippeln, daneben wären Sedimentstapel mit Schrägschichtungsgefügen sowie (mutmaßliche) Sturmflutsedimente (Tempestite) zu nennen. Selbst an der Bildung von feinkörnigen Schichtgesteinen wie dem „kleinknotigen Kalk“ (104) sowie Bordenschiefern oder Dachschiefern (108) waren Turbidite beteiligt. Äußerst feinkörnige Sedimente wie Rußschiefer, die extrem langsam abgelagert worden sein sollen, führen manchmal „spektakuläre Pflanzenfossilien“ (59), etwa gut erhaltene Farnwedel (61). Diese konnten jedoch nur fossil erhalten bleiben, wenn sie von rasch herangeführten Sedimentwolken bedeckt wurden. Solche Pflanzenreste wurden früher, als z.B. der Dachschieferabbau noch weitverbreitet war, häufiger gefunden (z.B. Solms-Laubach 1896). Das Gleiche belegen gut erhaltene Tierfossilien in Feinsedimenten (z.B. Pfeiffer 1954).

Ein weiteres Problem: Ablagerungsraum-Deutungen. 
Wie häufig in der Literatur wird auch in diesem Buch kaum die Problematik deutlich, die entsteht, wenn heutige Ablagerungsräume von Sedimenten in die Vergangenheit projiziert werden (Fazies-Analysen). Oft sind es Ablagerungsräume fossiler Schelfmeere, denen Sedimente des Saxothuringikums „problemlos“ zugeordnet werden. Jedoch „können gerade diese Sedimente große Probleme bei ins Detail gehender sedimentologischer Interpretation bereiten“, betont selbst ein Lehrbuch (Schäfer 2005, 289). Das gilt aber auch für andere Schichtgesteine. Genannt sei nur der Lederschiefer (Oberordovizium). Er wird diskussionslos als eiszeitliches Sediment bezeichnet (45, 94), obgleich damals ein extremes Treibhausklima mit einem ca. 10-16 mal höheren CO2-Gehalt wie heute geherrscht habe (z.B. Schönlaub & Sheehan 2003). Dieses vieldebattierte „Ordovizium-Dilemma“ führte vereinzelt zu der Ansicht, daß es sich bei den vermeintlichen Eiszeit-Ablagerungen in Nordafrika „vielleicht um Sedimente tektonischen Ursprungs handeln könnte“ (Schwarz 2001). Auch die Deutung jüngstpräkambrischer Grauwacken als Eiszeit-Sedimente (72) dürfte nicht über jeden Zweifel erhaben sein. Sie werden etwas jünger datiert als die sog. „Schneeball-Vereisung“ der Erde (31f., 76; vgl. Stephan 2004).

Vorläufige Schlußfolgerung. 
Zusammenfassend kann gesagt werden: Die o.g. tektonischen Befunde, vor allem die Hebungsprozesse im Erzgebirge und besonders im Granulitgebirge, lassen einen noch wesentlich schnelleren Ablauf plausibel erscheinen, als bisher angenommen wird.

Literatur

Hölder H (1989)
Kurze Geschichte der Geologie und Paläontologie. Berlin.
Pfeiffer H (1954)
Der Bohlen bei Saalfeld/Thür. Beih. Geologie 11, 1-105.
Schäfer A (2005)
Klastische Sedimente. Fazies und Sequenzstratigraphie. München.
Schönlaub HP & Sheehan PM (2003)
Die Krise des Lebens am Ende des Ordoviziums. In: Hansch W (Hg) Katastrophen in der Erdgeschichte. Museo 19. Heilbronn, S. 82-98.
Schwarz T (2001)
Paläoböden als Klimazeugen. In: Huch M, Warnecke G & Germann K (Hg) Klimazeugnisse der Erdgeschichte. Berlin, S. 151-174.
Solms-Laubach H (1896)
Ueber die seinerzeit von Unger beschriebenen strukturbietenden Pflanzenreste des Unterculm von Saalfeld in Thüringen. Berlin.
Stephan M (2004)
Eine katastrophische Hypothese: Die „Schneeball-Vereisung“ der Erde. Stud. Int. J. 11, 93-97.
Zulauf G & Vejnar Z (2003)
Variszische Fahrstuhltektonik und cadomisches Basement im Westteil der Böhmischen Masse. Jber. Mitt. oberrhein. Geol. Ver. NF 85, 295-315.