P. van der Veen, U. Zerbst (Hrsg.): „Biblische Archäologie am Scheideweg?“
Für und Wider einer Neudatierung archäologischer Epochen im alttestamentlichen PalästinaHänssler-Verlag Holzgerlingen, 2002 Reihe Studium Integrale 536 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Format Din-A 4, PDF (30MB)
Nachfolgend eine Rezension von Thomas Schirrmacher:
1. Ein ungewöhnliches sorgfältiges Buch
Gratulation! Dies Buch ist schon in der äußerlichen gebundenen Aufmachung und im Seitenbild beim reinen Durchblättern Spitzenklasse und eine einzige Einladung zum Kaufen und Lesen, was für ein wissenschaftliches Buch zu einem Spezialthema ungewöhnlich ist. Im Bereich der Schöpfungsforschung kann nur noch das Schulbuch „Evolution“ damit konkurrieren. Die äußere Aufmachung stimmt dabei mit dem Inhalt überein. Der erste Eindruck der außerordentlichen Sorgfalt, mit der das Buch erstellt wurde (ich schreibe das nicht als einer, der zum ersten Mal ein Buch in der Hand hält!), bleibt auch beim längeren Detailstudium erhalten. Erst dadurch werden die vielen Pro- und Contrabeiträge zu einem sinnvollen Ganzen vereint. Eine durchdachte Gliederung der einzelnen Streitthemen, grau unterlegte Einführungen der Herausgeber in jedes Kapitel, die die Diskus-sion zusammenfassen, die vielen Übersetzungen, Literaturangaben, Zeichnungen, Bilder, es stimmt einfach fast alles. (Damit bei all’ den lobenden Worten der Rezensent nicht in Verdacht gerät, er wolle nur Werbung machen, sei der kritische Hinweis auf die fehlenden Autorenvorstellungen erlaubt. Man hätte doch gerne gewußt, wen man jeweils vor sich hat.)
Es bleibt zu hoffen, daß dieser Einsatz ganz unabhängig davon, wie man zum Inhalt des Buches steht, dazu anregt, daß sich aus dem evangelikalen Bereich mehr jüngere Christen inspirieren lassen, Ägyptologie, Archäologie, semitische Sprachen, Altes Testament oder verwandte Fächer und Bereiche zu studieren.
2. Erwachsen geworden
Das Buch läßt einmal mehr erkennen, daß der ‚Kreationismus’ von dereinst, der eher davon lebte, der Vielfalt der wissenschaftlichen Meinungen nicht nur die biblische Offenbarung, sondern auch die eine wissenschaftliche Wahrheit entgegenzuhalten, bei uns erwachsen geworden ist. Früher taten viele „Kreationisten“ so, als wäre ihre Auslegung eines Bibeltextes oder ihre naturwissenschaftliche Interpretation derselben ebenso unfehlbar, wie die biblische Offenbarung selbst. Doch wer sich einmal anschaut, was man unter den „Schleusen des Himmels“ im Sintflutbericht so alles verstanden hat, weiß, daß man deutlich zwischen dem, was der Bibeltext tatsächlich sagt (und nicht sagt), und unseren möglichen Interpretationen oder möglichen Erklärungen unterscheiden muß.
So wie die Forschung zu den Grundtypen das alte Schwarz-Weiß-Schema „ein jedes nach seiner Art“ contra Evolution aller Arten zugunsten der Erforschung der Mikroevolution innerhalb fester Grundtypen und einer Vielfalt von wissenschaftlichen Sichtweisen auch unter Schöpfungsforschern aufgegeben hat, so kommt das vorliegende Buch weg von der Gegenüberstellung „Vertrauen in die Bibel = Chronologie X“ und „Bibelkritik = Chronologie Y“.
In diesem Buch kommen sowohl ganz unterschiedliche und sich teilweise widersprechende Vertreter einer „neuen“, alternativen Chronologie zu Wort, wie auch evangelikale Vertreter, die die ganze Diskussion für verfehlt halten, wie etwa Martin Heide (S. 373-380). Die Autoren geben selbst deutlich an, daß die vorgestellten Alternativen dringend der weiteren Erforschung und Diskussion bedürfen (z. B. S. 20, 519, 524). Nur erbitten sie von der Gegenseite dieselbe Bereitschaft, auf andere zu hören und nicht per Dekret andere Auffassungen gar nicht erst zum Gespräch zuzulassen.
3. Eine neue Chronologie?
Bis in die 60er Jahre war es vorherrschende Meinung, daß die syro-palästinische (auch levantische) Archäologie das Alte Testament im großen Stil bestätigt habe („Und die Bibel hat doch recht“). Seitdem aber die historisch-kritische Theologie die Abfassung bzw. Redaktion der alttestamentlichen Bücher zunehmend und immer radikaler in eine Zeit lange nach den dort geschilderten Ereignissen gelegt hat, gilt das Alte Testament als historisch unergiebig.
Die Chronologie Israels wird heute wie andere antike Kulturen in Ermangelung absolut datierbarer Fixpunkte an der mit solchen reichlich versehenen ägyptischen Chronologie „geeicht“. Eine Veränderung der gegenwärtig vorherrschenden ägyptischen Chronologie hat deswegen automatisch die Veränderung der Chronologie der umliegenden Kulturen zur Folge.
Richard Wiskin hatte in seinem populärwissenschaftlichen Buch „Die Bibrl und das Alter der Erde“ (Hänssler: Neuhausen, 1. Auflage 1994) unter anderem die offizielle sog. ägyptische Chronologie in Frage gestellt und der biblischen Chronologie auch gegenüber der Ägyptologie den Vorrang eingeräumt. Daß er dabei nur unterschiedliche Alternativmodelle vorstellen konnte, liegt eben daran, daß auch die Schöpfungsforschung als Wissenschaft in der Entwicklung begriffen werden muß. Daß er neben die von mir seinerzeit [Bibel und Gemeinde 91 (1991) 4: 390-427; Factum 5/1992: 40-46 & 6/1992: 33-41; abgedruckt in „Galilei-Legenden und andere Beiträge zur Schöpfungsforschung …“ Bonn, 1995. S. 73-139] vorgestellte Sicht Courvilles neuere und abweichende Ergebnisse von Rohl, Bimson, James und van der Veen u. a. stellte, habe ich damals an dieser Stelle ausdrücklich begrüßt. Mit Courville habe ich damals das letzte geschlossene Modell einer alternativen ägyptischen Chronologie vorgestellt, das jedoch von 1971 stammt und natürlich längst durch bessere Modelle überholt ist, die nur noch nicht zu einer wirklich umfassenden Alternative ausgebaut wurden.
Die zerstörten Mauern von Jericho gehören derzeit der falschen Zeit an, im alternativen Modell werden aus ihnen wie von unsichtbarer Hand gesteuert die unter Josua zerstörten Mauern. Die Paläste und Pferdestelle in Megiddo aus der späten Bronzezeit sind keinem bekannten Herrscher zuzuordnen, in der alternativen Chronologie sind es wohl die im Alten Testament beschriebenen Bauten Salomos. Plötzlich scheinen Mose, Josua, Josef, David u. a. greifbar zu werden. Grund genug, daß sich nicht nur konservative Bibelwissenschaftler fragen, ob nicht vielleicht einfach die Datierungen falsch sind. Denn immerhin ist das Alte Testament die einzige lückenlose Geschichtsschreibung eines Volkes des Altertums, ja eine der Hauptquellen für das Geschichtskonzept, das den historischen Wissenschaften zugrunde liegt.
Sollte ein Fehler in der Gesamtchronologie vorliegen, würden unweigerlich biblische Berichte mit den falschen Sichten der Ausgrabungen in Verbindung gebracht und als unglaubwürdig angesehen werden. Wo könnte ein solcher Fehler liegen? Vor allem in dem sog. „dunklen Zeitalter“, einer Zeit, die in Ägypten ebenso wie in den Nachbarkulturen nur durch wenige historische Zeugnisse erhellt wird und schon lange zu Diskussionen Anlaß gibt. Der Unterschied zwischen der traditionellen und der alternativen Chronologie kommt nun zustande, wenn man davon ausgeht, daß die 21. und 22. Dynastie in der sog. Dritten Zwischenzeit der ägyptischen Geschichte nicht vollständig nacheinander regiert haben, sondern sich überlappten.
Im vorliegenden Buch kommen Vertreter unterschiedlicher Modelle zu Wort, die jeweils eine Verkürzung der ägyptischen Chronologie irgendwo zwischen 200 und 350 Jahre andenken oder fordern, auch wenn die Thesen von David Rohl im Mittelpunkt stehen, weniger, weil die Herausgeber sie für die besten halten, sondern vielmehr deswegen, weil sie in ihrer Präsentation am weitesten fortgeschritten ist. Die Übereinstimmung von Altem Testament und Quellen der ägyptischen Geschichte scheint bei Rohl so verblüffend, daß Versuche evangelikaler Alttestamentler, mit der gängigen Chronologie die Glaubwürdigkeit des Alten Testaments zu verteidigen, demgegenüber verblassen – was alleine Rohls Thesen natürlich noch nicht für richtig erklärt, aber Grund genug ist, diese Thematik genauer zu untersuchen.
Man darf jedenfalls gespannt sein, wie die Diskussion weitergeht.