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‚Jeder, der mich trifft, wird mich erschlagen‘: Kain, das Bevölkerungswachstum und Zeus



In Bezug auf die Ausbreitungsgeschichte der frühen Menschheit wird häufig die Frage nach Kains Frau und nach den Verfolgungsängsten des Brudermörders gestellt. „Wer auch immer mich trifft, wird mich erschlagen“ (1. Mose 4,14). Vor wem hat Kain Angst? Mit solchen Fragen sind oft Zweifel an der Historizität der biblischen Urgeschichte (1. Mose 1-11) verbunden. Es wird argumentiert, daß die Furcht Kains nur vor dem evolutionären Hintergrund verstehbar sei, wonach der Mensch aus dem Tierreich stammt und zu Kains Zeit zahlreiche Urhorden von primitiven Menschen („Präadamiten“ ) lebten, vor denen sich Kain fürchtete. Der nachfolgende Beitrag von N. van Cleve gibt zu den genannten Fragen Diskussionsanstöße, die sich an der Heiligen Schrift orientieren. Andere biblisch fundierte Sichtweisen und Lösungen sollen damit nicht ausgeschlossen werden.

Inhalt


Kains Frau

Da Adam und Eva die ersten Menschen waren, konnte Kain nur eine seiner Schwestern, vielleicht auch eine Nichte, heiraten. Eine Geschwisterehe war damals unproblematisch, weil Gott die Menschen bestimmt ohne Erbdefekte geschaffen hatte. Da das Erbgut zunächst noch unverdorben war, trugen Verwandtenehen kein Risiko von Erbkrankheiten in sich. Erbschäden haben sich, vermutlich letztlich durch den Sündenfall ausgelöst, erst im Laufe der Generationen angesammelt, so daß später das Verbot einer Verwandtenehe biologisch sinnvoll wurde.

Vor wem hat Kain Angst?

Abel ist tot, der nächste Sohn Adams, von dem die Bibel erzählt, Seth, ist noch nicht geboren. Außer Kain und seiner Frau wissen wir nur noch von Adam und Eva. Vielleicht waren noch eine oder zwei Töchter da. Das ergibt im ganzen (außer Kain und seiner Frau) zunächst vier oder vielleicht fünf Personen. Kein Grund zur Panik also. Vor wem hat Kain dann Angst? Gibt es Hinweise auf weitere Nachkommen Adams? War Kain vielleicht gar nicht der Erstgeborene? Hatte Abel Kinder?

Wer sich im Bibelstudium auf heilsgeschichtliche „Nebengleise“ begibt, muß damit rechnen, daß die Schrift ihm Material für seine Studien nicht gerade in überreichlichem Maß zur Verfügung stellt. So ist es auch hier. Wie viele Kinder ein Patriarch hatte, in welchem Alter sie ihm geboren wurden, wie die Relation von männlichen zu weiblichen Nachkommen war, all das erfahren wir nicht. Trotzdem läßt sich wenigstens etwas herauslesen, das uns helfen kann:

Wie viele Kinder hatte Adam?

Die Bibel widmet der Nachkommenschaft des Kain fast ein halbes Kapitel (1. Mose 4, 17-24). Darüber hinaus wird nur noch von Nachkommen des Seth berichtet. Daraus läßt sich ziemlich eindeutig schließen, daß Kain der Erstgeborene gewesen sein muß, denn es wäre sonderbar, über Kains Söhne in aller Breite zu berichten und den Erstgeborenen, auf dem der besondere Segen Gottes liegt, samt Nachkommen völlig zu verschweigen. Hätte Abel Söhne gehabt, so wäre von ihnen die Rede gewesen, denn in diesem Fall wäre das Erstgeburtsrecht auf ihn und nach seinem Tod auf seinen ersten Sohn übergegangen und nicht auf Seth. Das gleiche Argument spricht auch gegen die Einfügung weiterer Söhne Adams zwischen Kain und Abel. Hätte Eva zwischen Abel und Seth weitere männliche Nachkommen gehabt, so wäre ihre Bemerkung, Gott habe ihr Seth als Ersatz für Abel geschenkt, nicht verständlich. Der Bibeltext läßt also kaum Spielraum für die Vermutung, daß Seth irgendetwas anderes gewesen ist als der dritte Sohn Adams.

Es gibt weitere Gründe für die Vermutung, daß Eva vor der Geburt von Seth nicht sehr viele Kinder gehabt hat. Ein Blick auf 1. Mose 5 verrät uns das Alter der Patriarchen bei der Geburt des Sohnes, der zum Stammvater wird. Von Adam bis Lamech werden neun Generationen aufgeführt (Noah zeigt sich in diesem Zusammenhang als statistischer „Ausreißer“ und wird deshalb weggelassen.) Das niedrigste Alter, das erwähnt wird, sind 65 Jahre, das höchste 187. Als Durchschnittsalter ergibt sich knapp 120 Jahre. Diese Aufzählung steht in recht scharfem Kontrast zur Liste der nachsintflutlichen Patriarchen in 1. Mose 11. Auch hier werden neun Generationen erwähnt, aber das höchste Alter liegt „nur“ noch bei 100 Jahren, das niedrigste sogar bei 29. Als Durchschnittsalter ergibt sich ca. 43 Jahre. Der „Rekord“ von 100 Jahren wird von Sem gehalten, dem einzigen aus der Liste, der schon vor der Flut lebte. Das zeigt eindeutig, daß die Patriarchen vor der Flut ihre Kinder später zeugten als diejenigen, die nach der Flut lebten. Somit braucht es uns nicht zu verwundern, wenn das Wachstum der Menschheit zunächst etwas schleppend anläuft.

Bevölkerungswachstum bis zur Flut

All dies darf nun nicht als Hinweis darauf gewertet werden, daß es auf der Erde zur Zeit der Flut keine nennenswerte Bevölkerung gegeben habe. Folgendes muß bedacht werden:

  • Frauen waren vor der Flut aller Wahrscheinlichkeit nach lange fruchtbar. Wenn eine Frau über 400 Jahre hinweg alle 5 Jahre ein Kind bekommen haben sollte, so ergäbe sich schon die stattliche Zahl von 80 Nachkommen.
  • Es kann in vorsintflutlicher Zeit – wie auch heute – mehr Frauen gegeben haben als Männer (vgl. 1. Mose 4, 19).
  • In den ersten 900 Jahren nach der Schöpfung spielt der Tod eine sehr untergeordnete Rolle. Er ist zunächst praktisch nur als Ergebnis von Unfällen und Verbrechen auf dem Plan. Erst nach 930 Jahren erfahren wir von etwas, das nach einem „natürlichen“ Todesfall aussieht.
  • Bevölkerungen wachsen, wenn keine ernsthaften Störungen auftreten, exponentiell. Dabei ergibt sich am Anfang stets ein sehr geringes absolutes Wachstum, das aber nach einiger Zeit rapide zunimmt. Wenn man (nur als Beispiel) davon ausgeht, daß sich die Bevölkerung vor der Flut alle 50 Jahre verdoppelt hat (die gegenwärtige Verdopplungszeit wird von der Unicef auf etwa 40 Jahre geschätzt), so kommt man zu dem Ergebnis, daß es zur Zeit der Flut etwa 2 Milliarden Menschen auf der Welt geben konnte.

Kain war Stammvater der halben Menschheit

Zurück zu unserer ursprünglichen Frage: Vor wem hat Kain Angst? Eine mögliche Antwort ist die, daß er das rapide Anwachsen der Weltbevölkerung schon voraussieht. Sollte er in etwa das Alter Adams erreicht haben (930 Jahre), so hätte die Weltbevölkerung zur Zeit seines Todes immerhin aus rund einer Million Menschen bestanden. (Genügend Menschen also, um schon lange vorher eine Stadt zu bauen – 1. Mose 4,17.) Bei näherem Hinsehen leuchtet diese Erklärung aber nicht ein, denn für die Hälfte dieser Bevölkerung war Kain schließlich selbst verantwortlich. Es waren seine eigenen Nachkommen. Mußte er sich vor ihnen fürchten? Waren sie nicht eher ein Schutz für ihn?

Vor diesem Hintergrund drängt sich folgende Erklärung auf: Es waren nicht oder wenigstens nicht hauptsächlich Menschen, von denen Kain Unheil erwartete. Darauf deutet eigentlich schon die Art des Schutzes hin, den Gott ihm gibt. Gott „machte an Kain ein Zeichen, damit ihn nicht jeder erschlüge, der ihn träfe“ (1. Mose 4, 15b). Das erinnert ein wenig an die Versiegelung der 144.000 aus Offb. 7 oder die Versiegelung der Gerechten aus Hes. 9. In beiden Fällen – wie auch beim Bestreichen der Türpfosten mit Blut beim ersten Passahfest – geht es um den Schutz von Menschen vor dem Vollzug einer Gerichtshandlung durch Engel, also um einen Schutz vor übernatürlichen Mächten. Diese erkennen den Gezeichneten als eine Person, die unter dem Schutz Gottes steht.

Die Söhne Gottes

In 1. Mose 6, 1-4 findet sich eine etwas merkwürdig anmutende Stelle: „Und es geschah, als die Menschen begannen, sich zu vermehren auf der Fläche des Erdbodens, und ihnen Töchter geboren wurden, da sahen die Söhne Gottes die Töchter der Menschen, wie schön sie waren, und sie nahmen sich von ihnen allen zu Frauen, welche sie wollten. Da sprach der HERR: Mein Geist soll nicht ewig im Menschen bleiben, da er ja auch Fleisch ist. Seine Tage sollen 120 Jahre betragen. In jenen Tagen waren die Riesen auf der Erde, und auch danach, als die Söhne Gottes zu den Töchtern der Menschen eingingen und sie ihnen gebaren. Das sind die Helden, die in der Vorzeit waren, die berühmten Männer.“

Im ersten Moment fühlt man sich fast an die griechische Mythologie erinnert, wo Zeus und seine Kollegen mit menschlichen Frauen Kinder zeugen. Auch von diesen heißt es, sie seien berühmte Helden gewesen. Was kann man über die „Söhne Gottes“ sagen? Nicht viel, denn die Bibel sagt nicht viel. Abgesehen von 1. Mose 6 berichtet nur noch ein Buch von ihnen, Hiob (im NT wird der Begriff völlig anders verwendet, weshalb einige Übersetzungen ihn mit „Kinder Gottes“ wiedergeben). Bei Hiob sehen wir (Hiob 1, 6), daß die „Söhne Gottes“ auch nach dem Sündenfall und nachdem die Vereinigung mit „Töchtern der Menschen“ begonnen hat, Zutritt zum Thron Gottes haben, also „geistliche“ Wesen sind. Wir erfahren auch, daß „der Verkläger unter ihnen“ ist. Ob dies bedeutet, daß er einer von ihnen ist oder nur, daß er dabeisteht, bleibt offen. Auch Hiob 38, 7 zeigt die Zugehörigkeit der „Söhne Gottes“ zur geistlichen Welt.

In 1.Mose 6 erscheinen die „Söhne Gottes“ in einer ganz anderen Weise. Sie haben offenbar eine menschenähnliche Gestalt (oder können eine solche annehmen), sie sind empfänglich für die Reize einer Frau und sind mit Frauen „fruchtbar kreuzbar“. Daraus müssen wir – in Verbindung mit der Aussage von Jesus über die Auferstehung in Mt. 22, 30 – den Schluß ziehen, daß sie mit den „Engeln im Himmel“ nicht identisch sind, was aber nicht unbedingt bedeuten muß, daß es sich um dämonische Wesen handelt.

Ein Unterschied zu Zeus offenbart sich darin, daß die „Söhne Gottes“ sich Menschen „zu Frauen nehmen“, was auf eine dauerhafte Beziehung hindeutet. Gott reagiert auf diese Beziehungen mit der Aussage: „Mein Geist soll nicht ewig im Menschen bleiben, da er ja auch Fleisch ist. Seine Tage sollen 120 Jahre betragen.“ Daraufhin scheinen die „Menschentöchter“ in den Augen der „Söhne Gottes“ allmählich an Attraktivität zu verlieren.

Sowenig wir heute von den „Söhnen Gottes“ begreifen können, die kurzen Hinweise auf sie genügen, um uns nochmals ins Gedächtnis zu rufen, wie sehr sich die Welt vor der Flut – und kurz danach – von der uns vertrauten unterschied. Nicht nur, daß es – in geeigneten Biotopen – Saurier gab und auch andere Pflanzen und Tiere, von denen wir uns kaum eine Vorstellung machen können; auch die Trennung von Geist und Fleisch war nicht so eindeutig wie heute. Gott erscheint Abraham mit zwei Begleitern in – wie es scheint – menschlicher Gestalt und läßt sich von ihm zum Essen einladen (1. Mose 18). Als Josua dem „Obersten des Heeres des HERRN“ begegnet (Jos. 5, 13), fragt er, ob er Freund oder Feind vor sich hat. Erst als er die Antwort erhält, wird ihm klar, daß er vor einem Mächtigen aus der unsichtbaren Welt steht.

Angesichts dieser Vielgestaltigkeit der Bewohner der ersten Welt, in der die Menschen – zumindest am Anfang – eher eine Minderheit zu sein scheinen, braucht man also wirklich nicht erstaunt zu sein, wenn Kain sich schutzlos und bedroht fühlt.

War Zeus ein Sohn Gottes?

Niemand, der sich mit den Mythen der antiken Völker befaßt, kommt um die Frage herum, was die Menschen der damaligen Zeit dazu bewogen hat, diese Geschichten aufzuschreiben und – zumindest in der Anfangszeit – auch zu glauben. Bis vor kurzem war es üblich, diese Mythen als bloße Legende anzusehen, denen jede historische Basis fehle; die Frage, wie sie unter diesen Umständen entstehen konnten, blieb unbeantwortet. In der Regel tat man sie mit einem Hinweis auf das „primitive Denken“ der Menschen der Urzeit ab. Heute ist man – teilweise sogar bei alten Göttersagen – vorsichtiger. Die Vorstellung von der Primitivität unserer Vorfahren hat sich als unhaltbar erwiesen, und Angaben von Mythen über Orte und Geschehnisse haben sich wiederholt als zumindest beachtenswert gezeigt. Die Entdeckung von Troja durch Heinrich Schliemann ist ein typisches Beispiel und für das allmähliche Umdenken wohl nicht ganz ohne Bedeutung. Die Bibel beweist ihre Zuverlässigkeit dadurch, daß sie uns eine einleuchtende Antwort auf die Frage gibt, wie die archaischen Mythen über Götter und Halbgötter entstehen konnten. Nach dem Gesagten könnte es sich dabei um die verzerrte – und von späteren Generationen „ungläubiger“ Dichter ausgeschmückte – Erinnerung heidnischer Völker an Begegnungen mit den „Söhnen Gottes“ handeln. Diese Begegnungen waren für sie sicher nicht weniger beeindruckend und beunruhigend als für den fliehenden Kain.