Wissenschaftstheoretische Aspekte der Schöpfungsforschung am Beispiel der beobachtungsorientierten Kosmologie
Inhalt
- 1. Einleitung
- 2. Die besondere Problematik der Kosmologie
- 3. Die prinzipielle Ambivalenz der Beobachtungsdaten
- 4. Beispiel Standardkosmologie
- 5. Der Einfluss der weltanschaulichen Prämissen auf das konkrete Forschungsergebnis
- 6. Beispiel Standardkosmologie
- 7. Alternative, beobachtungsorientierte Zugänge zur Kosmologie
- 8. Diskussion eines wissenschaftstheoretischen Ergänzungsmodells
Am Beispiel der beobachtungsorientierten Kosmologie wird andeutungsweise die wissenschaftstheoretische Problematik bewusst gemacht, in der sich die Schöpfungsforschung befindet. Die Betrachtung mündet in der Erörterung der Lebensfähigkeit eines vom Konkordanzgedanken getragenen wissenschaftstheoretischen Ergänzungsmodells, das im Rahmen des pluralistischen, kritisch-rationalen Ansatzes steht.
1. Einleitung
Begriffserklärung: beobachtungsorientierte Kosmologie
Die beobachtungsorientierte Kosmologie ist eine Kosmologie, die sich ihrer wissenschaftstheoretischen Situation bewusster ist. Sie geht von der Grundfrage aus: Was ist – und was ist nicht – entscheidbar in der Kosmologie auf der Basis astronomischer Beobachtungen?
Motivation
Die Motivation zu diesem Aufsatz ist vielfältig und nach mehreren Richtungen hin orientiert. Wichtige Punkte sind:
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Befruchtung der Arbeit der Fachgruppe Wissenschaftstheorie am Thesenpapier
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Anstoß einer gründlichen Analyse zur genaüren wissenschaftstheoretischen Methodik der Arbeit der Studiengemeinschaft
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Suche nach Antworten auf diesbezügliche, brennende Fragen in den Fachgruppen, und damit im Zusammenhang stehend
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hinreichende Instruktion, Orientierung und Motivation der Arbeit der Fachgruppen (z.B. für eine biblische Kosmologie)
2. Die besondere Problematik der Kosmologie
Ähnlich wie in der Forschung nach der Herkunft und Entwicklung des Lebens, die die säkulare Wissenschaft mit der Evolutionstheorie zu beantworten pflegt, sind die für die Kosmologie verwertbaren empirischen Daten (die astronomischen Beobachtungen) aus prinzipiellen Gründen nicht eindeutig interpretierbar – schon gar nicht im Sinne einer Kosmogonie. Eine weitere Ähnlichkeit zur Biogenese und Evolution steht damit in engem Zusammenhang und besteht darin, dass weltanschauliche Prämissen auf das ganz konkrete Forschungsergebnis einen viel größeren, nämlich wesentlichen, Einfluss haben – im Gegensatz etwa zu naturwissenschaftlichen Disziplinen. Es handelt sich bei der Kosmologie außerdem nicht um eine reine naturwissenschaftliche, sondern vielmehr um eine historische Wissenschaft – was ebenfalls in Analogie zur Evolution steht.
3. Die prinzipielle Ambivalenz der Beobachtungsdaten
Es muss zwischen der Kosmographie und der Kosmologie unterschieden werden. Die Kosmographie hat die raumzeitliche Beschreibung des Universums zum Gegenstand. Die Kosmologie, die die Kosmographie einschließt, betrachtet zusätzlich die Dynamik, d.h. sie untersucht die Kräfte, die das Universum sich so entwickeln ließen bzw. lassen. (Eine Evolution des Universums wäre ein in der Kosmologie zu stehen kommendes Gedankengebäude, weil sie mit der Erklärung der zeitlichen Entwicklung zu tun hat.)
Eine Kosmographie aufgrund von Beobachtungsdaten allein ist problematisch, weil nur Ereignisse auf dem Rückwärtslichtkegel (Abb.?) beobachtbar sind – und der Rückwärtslichtkegel ist eine sehr bescheidene und ganz spezielle Untermannigfaltigkeit (dreidimensionaler Schnitt) des ganzen (vierdimensionalen) Universums. Eine Extrapolation in die prinzipiell unbeobachtbaren Raumzeitbereiche hinein ist ohne weitere Grundannahmen ebensowenig möglich wie die Bestimmung der räumlichen Struktur, nämlich der vielen unabhängigen, physikalisch relevanten Komponenten der Metrik (Funktionen des Ortes und der Zeit), deren Kenntnis für eine quantitative und topologische (sozusagen qualitative) raumzeitliche Beschreibung notwendig ist.
G. F. R. Ellis et al. (1985) unterscheiden den kosmographischen und den kosmologischen Fall einer beobachtungsorientierten Kosmologie und haben unter der Voraussetzung bestimmter, sehr allgemeiner Grundannahmen (z.B. der Vierdimensionalität der physikalischen Raumzeit) folgendes gezeigt:
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Kosmographischer Fall (ohne Annahme einer bestimmten Dynamik): Falls ideale Beobachtungsdaten zugänglich sind, reichen sie doch nicht hin, um die Raum-Zeit- Struktur der Vergangenheit, nicht einmal nur auf dem Rückwärtslichtkegel, zu bestimmen.
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Kosmologischer Fall (unter der Annahme der Gültigkeit der Allgemeinen Relativitätstheorie Einsteins und der Tatsache, dass sie die Dynamik des Universums dominiert): Ideale Beobachtungsdaten reichen hin, um das Universum zu beschreiben.
4. Beispiel Standardkosmologie
Die Standardkosmologie setzt (unbegründet!) die räumliche Homogenität und Isotropie des Universums voraus. Diese Voraussetzung wird das sog. „Kosmologische Prinzip“ genannt. Es bedeutet, dass es eine (freilich sehr grobe) räumliche Rasterung (Skala) gebe, bei der die kosmographischen Größen wie z.B. Materiedichte, Temperatur, Raumkrümmung usw. – über eine Rastereinheit (Skaleneinheit) gemittelt – zu je einer bestimmten kosmologischen Zeit überall gleich seien. Damit ist erstens ganz direkt eine eindeutige Extrapolation in die prinzipiell unbeobachtbaren Raumzeitbereiche hinein gegeben. Zweitens hat die Metrik dadurch tatsächlich nur noch eine einzige unabhängige Komponente, die dann eine Funktion der kosmologischen Zeit ist und deren zeitliche Entwicklung nur noch aus der Dynamik folgt. Diese Funktion bestimmt damit die gesamte Kosmologie eindeutig.
Erst durch die Annahme des „Kosmologischen Prinzips“ also reichen die Beobachtungsdaten hin, um eindeutig eine Kosmologie zu favorisieren.
Zur erkenntnistheoretischen Bewertung dieser Situation heißt es in einem Klassiker unter den Kosmologielehrbüchern, Steven Weinberg, Gravitation and cosmology, erschienen 1972 John Wiley & Sons, Seite 408f:
„The real reason, though, for our adherence here to the Cosmological Principle is not that it is surely correct, but rather, that it allows us to make use of the extremely limited data provided to cosmology by observational astronomy. If we make any weaker assumptions, as in the anisotropic or hierarchical models, then the metric would contain so many undetermined functions (wether or not we use the field equations) that the data would be hopelessly inadequate to determine the metric. On the other hand, by adopting the rather restrictive mathematical framework described in this chapter (in dem Kapitel geht es gerade um Symmetrien der Metrik, für die die Homogenität und Isotropie des Raumes ein Beispiel ist; Anm. v. T.P.), we have a real chance of confronting theory with observation. If the data will not fit into this framework, we shall be able to conclude that either the Cosmological Principle or the Principle of Equivalence (gemeint ist die Allgemeine Relativitätstheorie, von der angenommen wird, dass sie als Gravitationstheorie die Dynamik des Universums dominiere; Anm. v. T.P.) is wrong. Nothing could be more interesting.“
Die Bemerkung zeigt, dass die säkulare Forschung sich des betrachteten besonderen erkenntnistheoretischen Problems durchaus und seit langem bewusst ist. – Die während des letzten Jahrzehnts weitergetriebenen astronomischen Beobachtungen der ziemlichen Inhomogenität der sichtbaren Materieverteilung auf großen Skalen legen in der Tat Zweifel am Kosmologischen Prinzip nahe. Da man aber gute Gründe zu der Annahme hat, dass der größere Anteil der Materie unsichtbar ist, ist auch nicht einmal die beobachtete Inhomogenität eindeutig interpretierbar. Insgesamt wird die prinzipielle Ambivalenz der Beobachtungsdaten an diesem Zitat sehr deutlich: Interpretiert man sie nicht vom Standpunkt des unbegründeten Kosmologischen Prinzips, so können demzufolge anscheinend gar keine Aussagen mehr gemacht werden.
5. Der Einfluss der weltanschaulichen Prämissen auf das konkrete Forschungsergebnis
Obwohl (oder vielleicht sogar: weil) man sich der vorbezeichneten problematischen Situation lehrbuchmäßig bewusst ist, bekommen die weltanschaulichen Prämissen einen das konkrete Forschungsergebnis und den Gang des Main-Streams prägenden Charakter. Die bestehende Ambivalenz wird langfristig genutzt, um sie in den weltanschaulichen Dienst zu stellen. Die Forschungsergebnisse stehen zwar genau genommen unter dem Vorbehalt der kritischen Diskussion (s. Weinberg-Zitat), die aber ganz besonderen Einschränkungen unterworfen ist. Das Bedürfnis nach existentieller Gewissheit lässt diesen Vorbehalt weitgehend in Vergessenheit geraten. Das Bewusstsein für die Ungewissheit und für den Ausstand der kritischen Diskussion ist an der Basis weitgehend nicht vorhanden. Es droht das Trugbild zu entstehen, dass die Forschungsergebnisse die vorausgesetzte Weltanschauung stützen.
Es ist interessant zu beobachten, wie sich der Wissenschaftsbetrieb einer solchen Situation allmählich anpasst. Beispielsweise ist es in der Kosmologie so, dass Beobachtungsdaten oft nicht als Rohdaten veröffentlicht werden, sondern dass stattdessen Werte von modellspezifischen Parametern angegeben werden, wie sie im Rahmen der Standardkosmologie aus diesen Daten resultieren würden. Die Beobachtungsdaten werden vor ihrer Veröffentlichung bereits im Sinne des des Main-Streams gefiltert und interpretiert, so dass, falls sie für eine kritische Diskussion im obigen Sinne relevant sind, eine Auswertung in alternativer Richtung weitgehend nicht mehr möglich ist. Dies geschieht nicht „böswillig“, sondern aus dem genannten Bewusstseinsmangel und einer Beqümlichkeit heraus – die ja auch in demjenigen Rahmen gerechtfertigt wäre, in dem man gar keine Alternative mehr diskutieren wollte.
Es ist interessant, zu beobachten, wie sich die Forschungsbudgets ganz an einem eingeschlagenen Weg orientieren und Alternativen vernachlässigen – ganz entgegen der wissenschaftsethischen Vorgabe, dass gerade im Falle des Ausstehens der kritischen Diskussion die Alternativen gleichberechtigt berücksichtigt werden müssen. Der Gang des Main-Streams bekommt eine Eigendynamik mit besonderem Charakter.
6. Beispiel Standardkosmologie
Natürlich ist das „Kosmologische Prinzip“ (die Annahme, daß das Universum sozusagen überall gleich aussieht, sich aber zeitlich entwickelt) weltanschaulich motiviert. Es entspricht nämlich symbolisch bzw. psychologisch am ehesten der die Aufklärung beflügelnden Negation des geozentrischen Weltbildes einerseits und (ebenfalls symbolisch bzw. psychologisch) der Evolutionstheorie andererseits. Dabei ist das nicht einmal sachlich notwendig, denn erstens implizieren die Entdeckungen von Kopernikus, Galilei, Kepler und Newton noch lange nicht mit Notwendigkeit, dass sie auf das ganze Universum zu extrapolieren sind. Und zweitens impliziert eine Evolution der Biologie noch lange nicht, dass das ganze (biologisch tote) Universum evolviere. Es sind ganz klar die psychologischen Wirkungen der genannten Gedanken, die den Ausschlag gegeben haben.
Dabei ist es tatsächlich so, dass auch alternative restriktive Symmetrien für das Universum angenommen werden können, die den Zustand auf dem Rückwärtslichtkegel auf andere Weise extrapolieren und die Beobachtungsdaten auf ihre eigene Weise eindeutig und mehr oder weniger erfolgreich interpretieren – mithin auf eine Weise, auf die die Bemerkung von S. Weinberg ebenso zuträfe. So hat G. F. R. Ellis 1978 eine solche Alternative durchgespielt, nur um einmal auf diese Tatsache aufmerksam zu machen. Seine Alternative zum Kosmologischen Prinzip war ein statisches (mithin „ewiges“), kugelsymmetrisches Universum, in dessen Zentrum sich unsere Galaxie ungefähr befindet. Zwar empfindet der moderne Mensch diese Vorstellung aus den genannten psychologischen Gründen geradezu als intellektüll geschmacklos. Ellis gelang es aber hervorragend, astronomische Beobachtungstatsachen wie beispielsweise die Rotverschiebungs-Entfernungs-Relation (Hubble- Relation) oder die isotrope Hintergrundstrahlung in dieses Szenario zwanglos einzuordnen. Trotzdem hat es für eine solche Forschung nie ein nennenswertes Budget gegeben. (Und das liegt mit Sicherheit nicht daran, dass Wissenschaftler wie Ellis zu den nicht akzeptierten Sonderlingen gehören.)
An diesem Beispiel erkennt man deutlich, wie konkret die Ausprägungen der weltanschaulichen Vorgaben auf den Main-Stream sein können, wenn die kritische Diskussion drastisch eingeschränkt ist.
[Ende des Beispiels]
Diese Situation ist beim Vorhandensein von guten Möglichkeiten zur kritischen Diskussion ganz anders. Im Falle der Zugänglichkeit von Falsifikationsmöglichkeiten wird in der Regel von diesen Gebrauch gemacht. Auch wenn weltanschauliche Prämissen oder Inspirationen im Hintergrund des Ansatzes einer erfolgreichen Theorie gestanden haben mögen (wie z.B. die fernöstliche Mystik bei der Quantenmechanik), kann dann keine Rede davon sein, dass diese es waren, die der gesicherten Theorie das Gepräge gegeben haben. Vielmehr war der Ausgang der ermöglichten kritischen Diskussion, eben die Berücksichtigung der empirischen Fakten, dasjenige, das die entscheidende Rolle gespielt hat.
Zwar haben die philosophischen Prämissen immer einen bestimmten Einfluss auf die Theorienbildung und die wissenschaftliche Methodik – und damit auch indirekt auf das Forschungsergebnis. Wenn die Methodik aber wirklichkeitsorientiert und wissenschaftstheoretisch einwandfrei ist, sollte sie nicht für das konkrete Ergebnis ausschlaggebend sein, sondern eher auf seinen Erfolg. Im Bereich der Physik z.B., wo man Zugriff auf relevante Experimente hat, habe ich auch nicht den Eindruck, dass es an wesentlichen Stellen solche ausschlaggebenden Auswirkungen gibt.
7. Alternative, beobachtungsorientierte Zugänge zur Kosmologie
Trotz der beobachteten Main-Stream-Dynamik haben sich sehr bekannte, seriöse und ernstzunehmende Kosmologen darüber Gedanken gemacht, wie man zu jener ausstehenden kritischen Diskussion zurückfinden kann. Die Gruppe um G. F. R. Ellis, die hier mit dem genannten Ergebnis an erster Stelle zu nennen ist, hat im Rahmen einiger grundlegender Veröffentlichungen die beobachtungsorientierte Kosmologie („observational cosmology“) eröffnet, in der sie sich der schon genannten Frage widmet.
Unter der von Ellis et al. aufgeworfenen Fragestellung der beobachtungsorientierten Kosmologie hat es auch von anderen Kosmologen Veröffentlichungen gegeben. Dabei hat man die Gültigkeit verschiedener Prämissen variiert. Beispiele:
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Bonnor, Ellis (1986)
Grundannahme:
uniforme, thermische Geschichte der Materie, Allg. Relativitätstheorie (ART) (Diese Annahme tritt an die Stelle der Idealität der Beobachtungsdaten bei Ellis, 1985.)
Resultat:
Wenn man annehmen darf, dass daraus eine Uniformität der kosm. Dynamik folge (was naheliegend erscheine), so folgt aus der anscheinenden Homogenität des Universums die wirkliche.
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Ehlers, Rindler (1987)
Grundannahme:
Kosmologisches Prinzip (Friedmann-Robertson-Walker-Metrik, FRW) (von der Annahme der Gültigkeit der ART als die die Dynamik bestimmende Kraft wird abgesehen)
Resultat:
Kenntnis entweder der Anzahldichte der Galaxien oder der intrinsischen Helligkeit der Galaxien (jeweils als Funktion der kosmologischen Zeit) bestimmt eindeutig die kosmologische Raumkrümmung (und deren zeitliche Entwicklung) und die jeweils genannte andere Größe (und damit eigentlich die ganze Kosmologie) eindeutig.
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Rindler, Suson (1989)
Grundannahme:
Kugelsymmetrische Kosmographie mit zeitlicher Entwicklung (Tolman, Bondi) (Von der ART wird wieder abgesehen.)
Resultat:
Aus der Kenntnis idealer Beobachtungsdaten und der galaktischen Evolution ist die Metrik (mitsamt zeitl. Entw.) und damit die Kosmologie eindeutig bestimmbar.
Wie bei der ursprünglichen Arbeit von Ellis et al. (1985) handelt es sich hier um theoretische Arbeiten. D.h. hier sind weder alternative Kosmologien aufgestellt oder propagiert worden, noch war das der dahinterstehende Beweggrund. Vielmehr wollte man der Standardkosmologie sozusagen „den sicheren Gang einer Wissenschaft“ beibringen, indem man sie einer kritischen Diskussion im Rahmen konkurrierender Modelle und der Falsifikationsmöglichkeit anhand der Beobachtungsdaten ausetzt. Man wollte schlicht das reine Postulat des Kosmologischen Prinzips durch eine empirisch gesicherte Erkenntnis ersetzen. Dabei ist die moderne erkenntnistheoretische Denkweise des kritischen Rationalismus offenbar zum Zuge gekommen.
8. Diskussion eines wissenschaftstheoretischen Ergänzungsmodells
Meiner Meinung nach könnte eine solche wissenschaftliche Handlungsweise, wie sie im vorigen Abschnitt schlaglichtartig angedeutet wurde, der Schöpfungsforschung zugute kommen. Das folgende ist also der Versuch, Schöpfungsforschung im Rahmen des kritischen Rationalismus zu verstehen. Die Vorteile und Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben könnten, möchte ich hier kurz nennen. Vor allem erscheinen die Berührungspunkte zwischen weltanschaulichen Vorgaben und der Empirik dabei problematisch.
Was mir vorschwebt, ist eine Art „Ergänzungsmodell“:
Weltanschauliche Vorgaben und Beobachtungsdaten ergänzen sich zu einem einzigen Bild und befinden sich sozusagen in Konkordanz züinander. Dabei implizieren die weltanschaulichen Vorgaben z.B. diejenigen Annahmen, die ich oben als kosmologische „Grundannahmen“ ausgewiesen habe. Das liegt im Falle der Studiengemeinschaft Wort und Wissen daran, dass die weltanschaulichen Vorgaben möglicherweise durchaus auch kosmologische Implikationen haben können, wie z.B. eine konkrete Altersvorstellung von der Erde (abweichend vom Main-Stream nur etwa 10.000 Jahre). Eine junge Erde unter gleichzeitiger Annahme hoher Alter für entfernte Sterne könnte die Konseqünz haben, dass man von der kosmographischen Homogenität abrücken und eine Kugelsymmetrie annehmen muss, wobei die Erde im Zentrum des Universums steht.
Im Idealfall würde die Wahrheitsbewertung im weltanschaulich bestimmbaren Teil durch die weltanschaulichen Prämissen allein geschehen, wohingegen im empirisch relevanten Teil die Beobachtungsdaten das Wahrheitskriterium abgäben. Weltanschauung und Empirie würden sich sozusagen „nicht gegenseitig ins Gehege kommen“. Es gäbe keine Widersprüche. Ein Rückschluss etwa von wissenschaftlichen Ergebnissen auf den Wahrheitsgehalt der weltanschaulich motivierten Prämissen wäre unmöglich.
Die Gretchenfrage lautet, was wir tun sollen, wenn der Nicht-Idealfall eintritt: Der Fall der Überbestimmung des Gesamtbildes durch empirische Fakten und weltanschauliche Prämissen. Folgt aus dieser Situation eine Wahrheitsbewertung der weltanschaulichen Prämissen?
Falls ja:
Muss man im Falle eines Widerspruches den Rückschluss auf die Ableitung der weltanschaulichen Prämissen zulassen? War dann die Exegese falsch? Muss vielleicht sogar die Bibel kritisiert werden? Steht die „Erkenntnis aus dem Buch der Natur“ über der „Erkenntnis aus dem heiligen Buch“?
Beispiel:
Luther hat das kopernikanische Weltbild aus Gründen der Schriftauslegung abgelehnt. Er meinte, es gebe Schriftstellen, die eindeutig das Feststehen der Erde aussagen. Aus der inzwischen empirisch leicht zugänglichen Aussage, dass sich die Erde bewegt (man denke nur an die Weltraumfahrt), folgt dann, dass entweder die Exegese Luthers verkehrt war, oder aber, dass die Bibel zu kritisieren ist.
Falls es aber trotz Überbestimmung der Unbekannten des Erkenntnisgegenstandes gar keinen Widerspruch gibt, sondern eine gegenseitige Bestätigung? – (Dieser Fall muss sorgfältig von dem Fall unterschieden werden, wo es mangels Überbestimmung, also aus prinzipiellen bzw. trivialen Gründen, keine Widersprüche geben kann!)
Daraus würde nach dem kritisch-rationalen Ansatz folgen, dass eine mögliche Falsifikation seitens der Empirie ausgeblieben ist, und daraus wäre sofort die (für diesen Ansatz typische) Bestätigung der Theorie gegeben. Weil die Theorie aber weltanschaulich vorgegeben bzw. beeinflusst wurde, folgt daraus, dass die Empirie die weltanschaulichen Prämissen wahrheitsbewertet. Auch in diesem Fall muss man sich die Frage stellen: Steht die „Erkenntnis aus dem Buch der Natur“ über der „Erkenntnis aus dem heiligen Buch“? (Interessant ist in diesem Zusammenhang der Disput zwischen dem „scientific creationism“ und dem „biblical creationism“.)
Falls nein (es wird a priori keine gegenseitige Wahrheitsbewertung zugelassen):
Müssen wir schizophren werden? Müssen wir Glauben und Wissen trennen? Gibt es mehrere Wirklichkeiten? Oder müssen wir dem exegetischen Ansatz der modernen Theologie folgen, wonach die weltanschaulich relevanten biblischen Aussagen einfach ins Reich der Mythologie gehören (zum Beispiel auch die leibhaftige Auferstehung Christi)?
Eigentlich ist die „Lösung“ der modernen Theologie, wie hier sehr deutlich wird, eine Lösung, wo man durchaus in gewisser Weise an der Einheit der Wirklichkeit festhält und diesbezüglich die gegenseitige Wahrheitsbewertung zulässt, und zwar in der Richtung, dass die „Erkenntnis aus dem Buch der Natur“ über der „Erkenntnis aus dem heiligen Buch“ steht, was die naturwissenschaftliche Domäne angeht. Man postuliert demgegenüber eine geistlich-spiritülle Domäne (eine Art Rettungsboot) und damit doch eine bestimmte Art der Trennung von Glauben und Wissen. Offenbar besteht immer die Gefahr einer solchen Lösung, wenn man eine gegenseitige Wahrheitsbewertung zulässt und gleichzeitig der empirischen Aussage den Vorrang gibt. Diese Gefahr ist latent auch dann vorhanden, wenn zunächst der Fall der gegenseitigen Bestätigung vorzuliegen scheint. Ich denke sogar, dass die Wissenschaftsgeschichte der Neuzeit diesen Wandel explizit durchgemacht hat: Angefangen hat es mit der Überbetonung der „cognitio Dei ex libro naturä“ im ausgehenden Mittelalter, die in der Aufklärung und im aufkommenden Rationalismus dann nahtlos in die Dominanz dieser Erkenntnisart vor der „cognitio Dei ex libro Scripturä“ (ich hoffe ich habe richtig lateinert) übergegangen ist. Von daher versteht sich m.E. die Schwäche der evangelischen Theologie vor der Aufklärung. Ich denke, wir dürfen diesen Fehler nicht wiederholen. Auch von daher ist eine große Sorgfalt bei der wissenschaftstheoretischen Erörterung notwendig.
Meine Frage ist: Kann man den Fall der Überbestimmung (also den „Nicht-Idealfall“, wie ich ihn hier ad hoc nannte) guten Gewissens ausschließen? Ist eine Überbestimmung vielleicht a priori ein Indikator für eine falsche Exegese (Beispiel Luther, s.o.)? Dann wäre ja doch durch die Hintertüre eine Dominanz der Empirie vor der Exegese eingekehrt. Oder muss eine echte Alternative her? Eine Alternative wäre vielleicht, den kritischen Rationalismus zu überwinden. Ich habe aber keine Ahnung, wie das gehen soll. – Vielleicht durch eine alternative Logik, eine Art Quantenlogik, wo es nicht zu jeder Frage-Situation eine eindeutige Wahrheitsbewertung gibt und von daher eine andere Art von Konkordanz möglich erscheint? Eine solche Logik hätte den Vorteil, dass man nicht schizophren werden müsste.