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Nelson Cabej: „Epigenetic Principles of Evolution“

Albanet Publishing 844 Seiten

Nachfolgend eine Rezension von Reinhard Junker:

Gosses Bild

An der Synthetischen Evolutionstheorie, auch an verschiedenen Erweiterungen der Theorie, wird seit einigen Jahren vermehrt Kritik geübt. Die Gründe sind im Einzelnen recht unterschiedlich, ebenso die Vorschläge, auf welche Weise die „kanonischen“ Evolutionstheorien ergänzt oder gar ersetzt werden müssen.

Nelson Cabej formuliert in seinem voluminösen Buch, das zu großen Teilen auch auf seiner Homepage (www.epigeneticscomesofage.com) veröffentlicht ist, ausführlich Kritik an der Synthetischen Theorie (von ihm als Neodarwinismus bezeichnet). Er argumentiert, dass morphologische Evolution epigenetisch erklärt werden müsse, also durch Vorgänge, die sich außerhalb der Gene abspielen. Die Entstehung neuer Formen und Gestalten könne bei Vielzellern nicht (oder nicht alleine) durch genetische Veränderungen verstanden werden. Der Zweischritt Mutation – Selektion erkläre die Entstehung evolutionärer Neuheiten in den Bauplänen der Lebewesen nicht. Cabej behauptet, es sei bei keinem einzigen Beispiel einer (nennenswerten) morphologischen Veränderung gezeigt worden, dass Mutationen dafür ursächlich gewesen seien (S. 1, 7, 9). Er schließt aus zahlreichen Phänomenen dass es keine ursächliche Beziehung zwischen Genänderungen und evolutionären Neuheiten bei Vielzellern gibt (9), was im krassen Widerspruch zu den Kernaussagen der Synthetischen Evolutionstheorie steht. Zu diesen Phänomenen gehören z. B. explosive Phasen der Evolution, schnelle Artbildungen, das häufige Vorkommen von Rückentwicklungen und Verlusten und das Wiedererscheinen von Merkmalen (Kapitel 15, vgl. Abb. 1), das Vorkommen von Atavismen (sprunghaft auftretende Rückschläge zu mutmaßlich früheren Evolutionsstadien; Kapitel 16) und Konvergenzen, also das unabhängige Auftreten baugleicher Merkmale in verschiedenen evolutionären Linien (Kapitel 18). Bei allen diesen Bespielen zeigen sich morphologische Änderungen ohne nennenswerte nachweisbare genetische Äquivalente. Cabej zweifelt auch das Standardmodell der allopatrischen Artbildung (Aufspaltung einer Art in Tochterarten) an, wonach geographische Trennung und anschließendes allmähliches Auseinanderentwickeln der weit überwiegende Normalfall der Artbildung sei. Viele Befunde sprächen vielmehr für sympatrische Artbildung, also Artbildung ohne vorherige geographische Trennung. Diese lasse sich nach Cabej epigenetisch erklären, nicht aber neodarwinistisch durch allmähliche Abwandlungen des Erbguts (Kapitel 20).

Alle diese Phänomene dokumentieren, dass Evolution nicht klassisch genetisch, sondern nur epigenetisch durch Veränderungen neuraler Netzwerke erklärbar sei. In der Evolution von Vielzellern seien epigenetische Änderungen maßgeblich, aufgrund derer die genetische Information anders als in einem Vorläuferorganismus genutzt wird, ohne dass Gene selbst sich ändern. Die evolutiven Inovationen würden von Änderungen des Nervensystems ausgehen (s. u.). Auch Selektion erkläre den Ursprung des Neuen nicht (18).

Seine Thesen erläutert der Autor anhand zahlreicher Beispiele; viele davon sind aus der Diskussion über die evolutionäre Entwicklungsbiologie (Evo-Devo) bekannt (vgl. Junker 2009). Unabhängig davon, ob man Cabejs Kritik und seinen alternativen Vorstellungen folgt oder nicht, liefert sein Buch viele interessante Daten, die bedacht werden müssen, wenn man die Leistungsfähigkeit der konventionellen Evolutionstheorien einschätzen möchte.

Abb. 1: Eines der von Cabej diskutierten Beispiele von Evolution per Verlust und Wiedererscheinen sind die Phasmiden (Stab- oder Gespenstschrecken), unter denen es geflügelte und flügellose Formen gibt. Oben ist ein Weibchen der geflügelten Stabschrecke Phasma gigas, ca. 30 cm lang, abgebildet, unten ein Weibchen der ca. 25 cm langen flügellosen Leprocaulinus spec. Beide Arten leben auf Papua Neu Guinea. Der häufig anzunehmende Verlust der Flügel und ihre mehrfach konvergent vorkommende Wiedergewinnung seien – so Cabej – nur durch epigenetische Änderungen plausibel. Hätten sich die Flügel durch einen Genverlust abgebaut, wäre dies vermutlich irreversibel (505). Die neodarwinistische Erklärung schrittweiser genetischer Änderungen, die selektiv begünstigt sind, erscheine unglaubhaft. Dagegen sei es viel plausibler, eine „Stilllegung“ und ein erneutes Anschalten entsprechender Entwicklungswege durch epigenetische Änderungen in verschiedenen Linien anzunehmen (vgl. Whiting 2003). Ähnlich argumentiert Cabej bei Atavismen. (Fotos: Alison Whiting/BYU, Abdruck mit freundlicher Genehmigung.)

Der Grundgedanke der epigenetischen Evolutionstheorie Cabejs
Für Cabej wird Evolution durch Änderungen in den epigenetischen Ebenen der Lebensprozesse bestimmt. Epigenetik umfasst Wechselwirkungen „oberhalb“ bzw. außerhalb der Gene wie Aktivierung und Inaktivierung von Regulations-Netzwerken, die den Genaktivitäten vorgeschaltet sind, oder Prozesse wie Reizaufnahme sowie Weiterleitung und Verrechnung der durch Reize ausgelösten Vorgänge. Der Grundgedanke der epigenetischen Evolution basiert auf der Ansicht, dass die Lebensäußerungen durch nicht-genetische Faktoren bestimmt werden, nämlich durch die Datenverarbeitung in neuronalen Schaltkreisen („neural circuits“), die letztlich bestimmen, ob und wann Gen-Regulations-Netzwerke ein- und ausgeschaltet werden. Die Schaltkreise wiederum werden durch äußere oder innere Signale beeinflusst. Daher sind die Entwicklungsgene in Vielzellern nur Werkzeuge und keine Akteure, weil sie epigenetische Anweisungen dafür benötigen, wann und wo sie aktiviert werden (6). Die Signalkaskaden, die in der Ontogenese wirken, starten also im Zentralnervensystem (ZNS) und werden über das periphere Nervensystem (Nerven) vermittelt. Gen-Regulations-Netzwerke sind untergeordnet. Mittels des gesamten Nervensystems werden äußere Reize zu indirekten Auslösern der Genexpression (Ablesen und Nutzung der genetischen Information); eine direkte Ursache-Wirkungs-Verkettung vom Reiz zum Gen erfolgt nicht. Die Expression von Genen ist also nicht direkt von äußeren Reizen abhängig, sondern von dem vorgeschalteten epigenetischen Prozess der Reizverarbeitung. Cabej nennt diese durch das Nervensystem indirekt vermittelte Genexpression „manipulativ“ (14, 55).

Entsprechend spielen sich nach den Vorstellungen von Cabej auch die maßgeblichen evolutionären Veränderungen in den epigenetischen Bereichen durch Abweichungen oder Neuheiten in Entwicklungswegen ab, deren Ursprung wiederum im Nervensystem liege (379). Nicht nur genetische, sondern auch epigenetische Information werde vererbt, letztere über das Zytoplasma. Die frühe Ontogenese wird erwiesenermaßen nicht vom genetischen Erbgut reguliert, sondern die wirksame Information ist epigenetisch (10). Man könne daher auch nicht von einem „genetischen Programm“ sprechen (10).

Epigenetische Änderungen sind (anders als genetische) abhängig und direkt beeinflussbar von Umweltreizen. Solche durch die Umwelt ausgelösten Änderungen kommen (anders als Mutationen) häufig vor, betreffen alle Individuen einer Population zugleich und sind immer adaptiv (380). Da sie sich nicht erst über viele Generationen hinweg in den Populationen durchsetzen müssen, können sie sich viel schneller etablieren.

Da also die Ontogenese mit Hilfe von Signalwegen gesteuert wird, die im ZNS ihren Ausgang nehmen, bietet sich ein entsprechendes Verständnis auch für die Phylogenese an: Cabej versteht das ZNS als Startpunkt für evolutionäre Veränderungen. Viele phänotypische Veränderungen, auch Artbildungen, erfolgen ohne genetische Änderungen (16). Der Autor präsentiert dafür im gesamten Buch zahlreiche Belege. Allerdings räumt er ein, dass die Mechanismen der neuronalen Datenverarbeitung, die neue Information für Veränderungen in den Entwicklungswegen generieren sollen, eine Black Box sei (17). Die entscheidende Frage bezüglich der Evolutionsmechanismen bleibt damit ohne Antwort. Cabej gelingt es nur, Gründe dafür zu nennen, dass die entscheidenden evolutionären Änderungen auf epigenetischen Prozessen basieren, nicht aber wie sie funktionieren.

Plastizität und Evolution
Der Autor befasst sich ausführlich mit dem Phänomen der Plastizität: Lebewesen sind in der Lage, bei starken Umweltänderungen sehr flexibel zu reagieren. Ausgelöst werden diese Reaktionen durch Umweltreize, die vom ZNS verrechnet werden, wodurch Entwicklungspfade aktiviert werden, die zu einer plötzlichen Ausprägung einer neuen, diskreten phänotypischen Eigenschaft führen. Cabej spricht von „Antwortfähigkeit“ des ZNS. Dabei könne auf Zustände mutmaßlicher evolutiver Vorfahren zurückgegriffen werden (269), also auf Strukturen, die sich im Laufe der Evolution bereits einmal gebildet hätten, stillgelegt seien und bei Bedarf (erneut) abgerufen werden können. Diese können über die epigenetische Vererbung auch an die Nachkommen weitergegeben werden. Damit ließen sich schnelle evolutionäre Übergänge erklären (315), doch tatsächlich werden dabei nur bereits angelegte Fähigkeiten abgerufen, deren Ausprägung in dauerhaft veränderter Umwelt über Generationen hinweg bestehen bleibt. Über ihre Entstehung wird vom Autor nichts gesagt.

Cabej geht weiter und behauptet, auch die Entstehung neuer Organkomplexe müsse epigenetisch durch Nutzung der Plastizität erklärt werden. Als eines von vielen Beispielen sei die Evolution des Insektenflügels (397ff.) genannt. Geflügelte Insekten würden sich von flügellosen nicht durch den Besitz von flügelbildenden Genen unterscheiden, sondern nur durch die Entwicklungsprogramme, die die Regulations-Netzwerke der Flügelgene nutzen (405). Die Änderungen würden von Signalen des ZNS ausgehen, die die Aktivierung von Signalkaskaden und Gen-Regulations-Netzwerken auslösen; dagegen seien das Juvenilhormon, das Hormon Ecdyson und die Gen-Regulations-Netzwerke des Flügels bei verschiedenen Insekten-Taxa funktionell unverändert. Daher sei die neodarwinistische Erklärung der sukzessiven genetischen Änderungen und daran ansetzender Selektion unglaubwürdig.

Hier muss kritisch angemerkt werden, dass die Argumentation nur für sekundäre Flügellosigkeit, also Flügelverlust, plausibel ist. Ob mutmaßliche evolutionäre Vorläufer geflügelter Insekten, die primär flügellos sind, die notwendigen genetischen Grundlagen bereits besitzen, müsste geprüft werden, erscheint aber sehr unwahrscheinlich. Weiter stellt sich die Frage, was sich auf welche Weise in der Epigenetik ändern musste, damit eine dauerhafte Veränderung – hier Entstehung der Flügelkonstruktion – möglich wurde. Cabej liefert nur Argumente dafür, dass die Musik in der Epigenetik spielt, nicht aber wie die Veränderungen ablaufen.

 

Cabej betont, dass Vielzeller nur existieren können, wenn sie „nachgenetische“ Kontrollsysteme besitzen. Damit in Vielzellern ein Gleichgewicht gegen Störungen aufrechterhalten werden kann, bedurfte es gegenüber Einzellern einer radikalen Revolution der Informationsflüsse und der Etablierung eines Kontrollsystems, das über die Aufrechterhaltung von Form und Funktion wacht, sie ermöglicht und die Desintegration verhindert. Cabej weist darauf hin, dass das Kontrollsystem in Lebewesen Kontrollsystemen in der Technik ähnelt (13).

Ähnlich wie im Ingenieurswesen benötigen die Lebewesen ein „integriertes Kontrollsystem“ (ICS), um ihre Strukturen gegen die ständig wirksamen Zerfallstendenzen aufrechtzuerhalten. Das ICS umfasst mehrere Ebenen der Kontrolle, ist hierarchisch aufgebaut und muss Folgendes leisten (27):

1. Der Zustand des gesamten organismischen Systems muss kontinuierlich überwacht werden.

2. Das Kontrollsystem muss Informationen über den normalen Zustand des organismischen Systems besitzen.

3. Es muss in der Lage sein, den Istzustand mit dem Sollzustand zu vergleichen.

4. Auf dieser Basis muss es in der Lage sein, die verlorengegangenen oder verminderten molekularen und zytologischen Komponenten zu quantifizieren.

5. Es muss die Arten und die Mengen der molekularen und zytologischen Komponenten bestimmen, die produziert werden müssen.

6. Es muss durch Signalkaskaden Anweisungen für die Produktion und den Ersatz der verlorengegangenen Komponenten an die richtigen Orte zur richtigen Zeit senden.

Der Regler ist das Nervensystem. Ohne ICS ist vielzelliges Leben nicht möglich; es ist eine neue Eigenschaft, die es in der anorganischen Welt nicht gibt. Beispiele für die Kontrolle durch das Nervensystem sind die Kontrolle der Physiologie, des Wasserhaushalts, des Tagesrhythmus, der Körpertemperatur, des Verhaltens und der Morphologie u. a.

Cabej macht keine Ausführungen dazu, wie das ICS evolutiv erworben worden sein könnte; er stellt aber klar, dass das ICS eine entscheidende Innovation zur Aufrechterhaltung der Körperfunktionen und der korrekten Informationsweitergabe an die Nachkommen war (356f.).

Die enorme Rechenkapazität des ZNS ermöglicht ihm, die Daten des Istzustands mit dem Normalzustand zu vergleichen. Das ZNS kann Abweichungen feststellen, Entscheidungen fällen und Korrektursignale an die abweichenden Strukturen senden. Mittels spezifischer Kaskaden werden die Signale in Botschaften übersetzt, um den Normalzustand wiederherzustellen.

Die genetische Information ist nach Cabej qualitativ ungeeignet, um die räumliche Position von Zellen in Vielzellern zu bestimmen, und quantitativ vernachlässigbar im Vergleich zur Informationsfülle, die zum Aufbau der Vielzellerstrukturen erforderlich ist (213). Dafür waren die Entstehung des Neurons (Nervenzelle) und deren Verknüpfung durch Nervenfasern entscheidend.

An die Nachkommen wird auch epigenetische Information weitergegeben, diese reicht bis zur Ausbildung des phylotypischen Stadiums mit dem Entwicklungsbeginn des Nervensystems. Cabej nennt die epigenetische Vererbung „kommunikativ“, während die genetische Vererbung „replikativ“ ist. Das bedeute eine „Informationsrevolution“. Das „Watson-Crick-System“ der Vererbung und das epigenetische System der Vererbung sind evolutionär so verschieden wie der genetische Code und die rechnerische Erzeugung epigenetischer Information. Im Gegensatz zum genetischen Code ist die epigenetische Information, die in neuronalen Schaltkreisen erzeugt wird, anpassungsorientiert und hochflexibel. Kurz: „Genetics proposes, epigenetics disposes“ (216).

Wesentliche Unterschiede zwischen dem Watson-Crick-System und dem epigenetischen System betreffen auch die Mechanismen der Erzeugung neuer Information. In letzterem resultiert neue Information aus Veränderungen in den rechenbetonten Eigenschaften der Schaltkreise (und nicht durch Mutation). Diese sind nicht zufällig, sondern adaptiv und resultieren aus der anpassungsorientierten Bearbeitung des Inputs externer oder interner Reize in neuronalen Schaltkreisen (215). Das Watson-Crick-System ist dem epigenetischen System der Vererbung untergeordnet.

 

Was erklärt epigenetische Evolution?
Cabej zeigt eindrucksvoll zahlreiche Defizite der Synthetischen Evolutionstheorie auf und bringt viele Beobachtungen und Argumente dafür, dass die Ursachen für evolutionäre Änderungen in epigenetischen Bereichen der Organisation der Lebewesen zu suchen sind. Er stellt zurecht fest, dass der schon zu Beginn der Vielzellerevolution vorhandene genetische Baukasten („tool-kit“) nicht genügt, um Evolution zu erklären. Denn der Baukasten weiß ja nicht selber, wie er anzuwenden ist (348). Wer ist der Choreograph, fragt Cabej (349), und verweist auf das ZNS und die dort erfolgende Reizverarbeitung sowie die dadurch ausgelösten Prozesse im Organismus. Doch damit beschreibt er den Istzustand, während die entscheidenden Fragen bezüglich evolutionärer Mechanismen offen bleiben. Dies soll nachfolgend anhand einiger Aspekte erläutert werden.

Woher kommt das evolutionär Neue?
Cabej sieht im Nervensystem einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis der Evolution und argumentiert mit vielen Beispielen und Phänomenen gegen ein genzentriertes Evolutionsverständnis. Aber es ist unklar, wie die Evolution durch vom Nervensystem hervorgerufene Veränderungen funktioniert; Cabej selber spricht diesbezüglich von einer „Black Box“ (s. o.). Er fordert neue Dimensionen und Perspektiven für Evolution, ohne konkrete Vorschläge dazu vorzulegen. Er betont die Bedeutung eines Kontrollsystems als Voraussetzung für die Existenz von Vielzellern und damit auch für ihre Evolution. Aber Kontrollsysteme sind nichtreduzierbar komplex, und ein schrittweise evolutiver Aufbau erscheint nicht denkbar (vgl. Kasten „Kontrollsysteme in Vielzellern“). Wenn das Nervensystem die Führungsgröße ist, sowohl in der Ontogenese als auch in der Phylogenese, stellt sich außerdem unweigerlich die Frage, wodurch die Nervenzellen und Nervenbahnen geführt werden. Wie schafft es ein natürlicher Prozess, ein System aufzubauen, das Umweltreize interpretieren, gesammelt auswerten und daraus sinnvolle Reaktionen verursachen kann? Wie lernt ein Organismus, wann welche äußeren Reize welche Bedeutung für ihn haben?

Wenn also nennenswerte Evolution ohne Genänderung durch Änderungen in epigenetischen Bereichen erfolgen soll: Woher kommt das neue epigenetische Potential? Wenn Evolution dadurch erfolgt, dass vorhandenes „Baumaterial“ anders als zuvor genutzt wird: wodurch werden entsprechende Neuerungen gesteuert? Schließlich wird im Rahmen evolutionärer Vorstellungen eine planende Instanz ausgeschlossen.

Ursachen oder Koinzidenzen?
Viele Zusammenhänge, die Cabej als evolutionär bedeutsam ansieht, sind nur Koinzidenzen, also notwendige Voraussetzungen für die Existenz von Vielzellern und ihre Evolution. Aber als Ursachen für den evolutionären Wandel sind sie nicht nachgewiesen. So sind das Kontrollsystem, die Neuralleiste, das Neuron, das Gehirn und das Rückenmark (beides bildet bei Wirbeltieren das ZNS) und andere Schlüsselneuheiten notwendige Voraussetzungen für die Existenz von Vielzellern und für eine Vielzellerevolution, aber sie liefern keine Aussage über ihre Entstehungsweise (278).

Woher kommen die untergeordneten Gene?
Auch wenn die Änderungen von Genen nicht entscheidend für Makroevolution sein sollten, bleibt dennoch die Aufgabe, ihre Entstehung und ihre Divergenz zu erklären. Auch wenn viele Gene bei den verschiedensten Tierstämmen gleich sind, gibt es doch auch Unterschiede im Erbgut und für einzelne Taxa spezifische Gene. Deren Entstehung kann epigenetisch nicht erklärt werden.

 

Eine besondere Bedeutung als evolutionäres Schlüsselorgan sieht Cabej in der Neuralleiste. Diesem ontogenetischen Gewebe- bzw. Zellverband widmet Cabej ein eigenes Kapitel (17). Sie ist entscheidend beteiligt in der Entwicklung zahlreicher Organe, oft auch ganz neuer Organe bei Wirbeltieren. Neuralleistenzellen sind Abkömmlinge des embryonalen Neuralrohres (der Anlage des ZNS) und wandern nach ihrer Entkopplung gezielt durch den Körper zu ihren Zielorten, wo sie an der Bildung von zahlreichen Gewebetypen und Strukturen (z. B. Knochen und Drüsen im Gesichtsbereich, Nebennieren) beteiligt sind. Sie werden mit epigenetischer Information ausgestattet und sind in der Ausbildung fast aller Körperorgane integriert (572). Die Neuralleistenzellen haben nach Cabej einen großen Anteil an den beispiellos hohen Änderungsraten der Wirbeltierevolution (571). Er meint, die Neuralleistenzellen seien die Hauptantriebskraft der beschleunigten Evolutionsraten der Wirbeltiere, verglichen mit den Wirbellosen. „Dieser ‚Do-it-yourself-Modus’ der Herausbildung neuer Morphologien, die von den Abkömmlingen der Neuralleiste übernommen werden, war eine entwicklungsbiologische ‚Erfindung’ mit revolutionären Konsequenzen für die Evolution der Wirbeltiere“ (574). Die Neuralleistenzellen wiederum werden vom Neuralrohr und vom Nachhirn für den Reiseverlauf durch den Körper, dem sie folgen müssen, und für die Entwicklungsprozesse, die sie am Zielort anstoßen müssen, mit epigenetischer Information versorgt (582). Damit wird die Bedeutung epigenetischer Vorgänge deutlich.

 

Wie werden epigenetische Änderungen fixiert?
Wenn Evolution epigenetisch gesteuert wird, muss geklärt werden, wie Änderungen fixiert und bleibend an die Nachkommen weitergegeben werden können. Fixierung von Änderungen, also die stabile und bleibende Weitergabe an die Nachkommen, ist bisher nur für das Erbgut bekannt. Solange Änderungen „nur“ plastische Reaktionen auf Umweltänderungen sind, denen keine Genänderungen zugrunde liegen, können sie in entsprechend geänderten Umwelten auch wieder rückgängig gemacht werden, auch wenn sie eine Zeitlang über das Zytoplasma an die Nachkommen vererbt wurden. Evolutionär wäre damit letztlich nichts „gewonnen“ und nichts erklärt. Daher ist es fragwürdig, ob die Plastizität der Lebewesen überhaupt ein Schlüssel für das Verständnis von Evolution sein kann (vgl. Junker 2010). Ist Plastizität der erste Schritt einer evolutionären Veränderung? Oder ist Plastizität nur eine jederzeit reversible schnelle Anpassung an geänderte Umweltbedingungen? Plastizität der Lebewesen verweist auf aktuelle vorhandene latente Potentiale in den Lebewesen, die eine schnelle adaptive Reaktion bei Umweltänderungen erlauben, steht aber nicht in einem nachweisbaren Zusammenhang mit Evolution.

Abb. 2: Polymorphismus in der Entwicklung der Hörner des männlichen Mistkäfers Onthophagus taurus. Unterhalb einer bestimmten Käfergröße werden die Hörner nicht ausgebildet (Schwelleneffekt). (Aus Stern & Emlen 1999; Abdruck mit freundlicher Genehmigung von D. Emlen).

Schlummernde Potenzen und evolutionäre Möglichkeiten
Es sind heute viele Beispiele dafür bekannt, dass geringfügige Änderungen zur Ausprägung oder zum Fehlen bestimmter Organe führen. Die Änderungen können auslösende Umweltreize oder Mutationen in Regulationsgenen sein. Beispielsweise bilden Käfer der Gattung Onthophagus Hörner aus, wenn sie eine bestimmte Körpergröße überschreiten (Abb. 2). Das ist Folge des Überschreitens eines Schwellenwerts und ein typisches Beispiel von Plastizität (s. o.). Hier entsteht nichts Neues, sondern je nach Umweltreizen wird ein morphogenetisches Programm abgerufen oder nicht. Beispiele dieser Art gibt es in Hülle und Fülle, Sie liefern aber keinen Hinweis dafür, wie das betreffende Programm (hier für die Ausbildung von Hörnern) entstanden ist. Daher können solche Beispiele auch nicht als Modell dafür dienen, wie evolutionär Neues erstmals entstanden sein könnte. Cabej bringt in diesem Zusammenhang die Beine der Tetrapoden (Vierbeiner) und stellt sie in die Reihe von Beispielen für Plastizität (423ff., vgl. 547). Das ist jedoch ein irreführender Vergleich, da niemand behaupten wird, der Vierbeiner-Bauplan sei in den mutmaßlichen Fischvorfahren bereits angelegt gewesen wie etwa die Hörner von Dungkäfern. Auch bei einem weiteren Beispiel, der Entstehung des Fledermausflügels, ist die Argumentation von Cabej viel zu oberflächlich, weil die Details, die ein Flugapparat neu benötigt, nicht ansatzweise bedacht werden (437ff.).

Schlummernde Gene während vieler Millionen Jahre erhalten?
Im Zusammenhang mit schlummernden Genen und ganzen Gen-Netzwerken stellt sich das Problem, wie es möglich sein kann, dass außer Betrieb gesetzte Gene über viele Millionen Jahre hinweg funktionsfähig bleiben können. So sind Gene und Gen-Regulationsnetzwerke, die bei der Bildung der Zähne aktiv sind, nach mutmaßlich 80 Millionen Jahren auch in zahnlosen Vögeln noch voll funktionsfähig, wie ein seltenes atavistisches Auftreten belegt, obwohl sie – jedenfalls für die Bildung von Zähnen im Adultzustand – seit dieser langen Zeit nicht benötigt werden. Denn die Vögel besitzen längst anstelle eines Zahnkiefers einen Hornschnabel (507). Wie kann es sein, dass in dieser langen Zeit die dafür erforderlichen Gene und morphogenetischen Grundlagen nicht längst dem Mutationsdruck zum Opfer gefallen sind? Bei Wegfall der Selektion erscheint dies – gemessen an den Kenntnissen über die Häufigkeit von Mutationen – undenkbar. Im evolutionstheoretischen Rahmen muss gefordert werden, dass die betreffenden Gene und Mechanismen andere, aktuell notwendige Funktionen erfüllen, damit sie durch die Wirkung der Selektion erhalten bleiben können. Wenn sie aber aktuell benötigt werden, ist die Deutung als Atavismus (Rückschlag) fraglich.

In kürzeren Zeiträumen und weniger komplexen anderen Fällen erscheint die Deutung der epigenetisch gesteuerten Reaktivierung vorprogrammierter Abläufe und eines Abrufs vorhandener Optionen durchaus plausibel, nicht aber für komplexe Baupläne und nicht über mehrere zehn bis hunderte Millionen Jahre.

Versteckte Teleologie
Bemerkenswert ist schließlich, dass Cabej an vielen Stellen so argumentiert, als sei ein planender Akteur im Spiel. Dazu einige Beispiele: Cabej schreibt, die Konservierung von Entwicklungsprogrammen (die sich z. B. im Vorkommen von Plastizität oder im Auftreten von Atavismen äußert) erfordere einerseits biologische Kosten. Diese würden sich aber auszahlen, da latente Fähigkeiten überlebensnotwendig sein könnten, wenn sich stressende Umweltänderungen einstellen, die in Richtung früherer Bedingungen zurückführten (269). Das hört sich sehr nach Strategie an, als ob sich irgendjemand dafür entschieden hätte, quasi in eine Versicherung für den Notfall zu investieren – eine teleologische Maßnahme!

Teleologisches Denken verraten auch „um … zu“-Formulierungen, weil sie eine Strategie und Vorausschau implizieren. So argumentiert Cabej, Entwicklungszwänge in Vielzellern seien als Ergebnis zweier entgegengesetzter Evolutionsdrücke evolviert: Sie entstanden nicht, um Änderungen in Evolutionswegen völlig zu verhindern, sondern als Mechanismen, um ein gewisses Maß an Wahrscheinlichkeit solcher Änderungen zu erlauben (279f.). Ein weiteres Beispiel dieser Art: „Die Neuralleiste dürfte von einer Nervenstruktur eines Wirbellosen evolviert sein. Sie evolvierte, um den informatorischen Erfordernissen begegnen zu können, die mit dem zunehmenden Anwachsen der Komplexität der Wirbeltierstruktur und der Wirbeltiergestalt einhergeht“ (571).

Eingangs seines Buches merkt Cabej an, dass die informationsgesteuerten epigenetischen Vorgänge ohne die Zweckkategorie nicht verstanden werden könnten (26). Auch die Zweckkategorie hat nur in einem teleologischen Rahmen ihren Platz und sprengt den Naturalismus.

Literatur

  • Junker R (2009)
    • Evo-Devo: Schlüssel für Makroevolution? Teil 2: Wiederverwendung, Umfunktionierung und Neuprogrammierung. Stud. Int. J. 16, 17-21.
  • Junker R (2010)
  • Stern DL & Emlen DJ (1999)
    • The developmental basis for allometry in insects. Development 126, 1091-1101.
  • Whiting MF, Bradler S & Maxwell T (2003)
    • Loss and recovery of wings in stick insects. Nature 421, 264-267.