H. Hemminger, W. Hemminger: „Jenseits der Weltbilder“
Naturwissenschaft, Evolution, SchöpfungInfo Verlag, Karlsruhe 1988
Nachfolgend eine Rezension von Reinhard Junker:
Die Evolutionslehre führe nirgends zu besonderen Konflikten mit der Glaubenslehre, jedenfalls zu keinen Schwierigkeiten, die es auch ohne Evolution in der Gottesfrage gibt. Dies ist eine Kernaussage der beiden Autoren. Die Evolutionstheorie sei Glaubensfragen gegenüber neutral und könne in verschiedene Weltanschauungen eingebracht werden (12). Überhaupt meinen die Autoren, Glaubensinhalte seien jenseits der Weltbilder anzusiedeln, auch wenn sie immer wieder neu in konkreten Weltbildern ausformuliert werden müssen. Es sei ein Fehler, den Glauben mit bestimmten Weltbildern zu identifizieren, wie das der sogenannte „Kreationismus“, aber auch andere Anschauungen tun (Kap. IX).
Die Autoren erläutern die Standardmodelle der kosmischen und biologischen Evolution, begründen Ihre Auffassung von einer Zusammenschau von Evolution und der biblischen Überlieferung und kritisieren in weitgehend unpolemischer Weise die Schöpfungsforschung, wobei sie besonders auf die Studiengemeinschaft Wort und Wissen eingehen.
Wie begründen die Autoren Ihre theistisch-evolutionistische Sicht? Einige Argumente seien genannt und kritisiert. Sie verweisen darauf, daß man als Christ hinter der Individualentwicklung (Ontogenese) des Menschen Gottes Handeln sehe (193-195, 254f.). Jeder Mensch ist als Geschöpf Gottes durch Entwicklung einer befruchteten Eizelle entstanden. Hier schaffe Gott offenbar durch Evolution. Der Vergleich Ontogenese-Phylogenese (Stammesgeschichte) ist jedoch aus folgenden Gründen irreführend:
1. Die eigentliche Erschaffung des individuellen Menschen geschieht gar nicht während seiner (Individual-) Entwicklung (entsprechend der Stammesentwicklung), sondern am Beginn. Dabei bleibt es freilich Gottes Geheimnis, wie aus Ei- und Samenzelle ein neuer Mensch, ein neuer verwirklichter Gedanke Gottes wird. Jedenfalls ist mit der befruchteten Eizelle ein neuer Mensch in Existenz, der nicht erst im Laufe der Embryonalentwicklung zum Menschen wird. Nach der phylogenetischen Entwicklungsvorstellung entsteht der Mensch dagegen am äußersten zeitlichen Ende. Natürlich ist auch der weitere Prozess der Embryonalentwicklung wie jedes Geschehen in der Welt nicht ohne Gott, doch sollte man, den traditionellen, biblisch begründeten Unterscheidungen folgend, Schöpfungs- und Erhaltungshandeln auseinanderhalten. Schöpfung geschieht demnach am Anfang der Embryonalentwicklung, das weitere ist theologisch durch „Erhaltung“ zu beschreiben.
2. Es liegen ganz unterschiedliche Entwicklungsweisen vor. Das Schaffen Gottes durch ontogenetische Entwicklung wäre grundverschieden von einem Schaffen durch phylogenetische Entwicklung. Die Ontogenese startet mit einer Ganzheit (befruchtete Eizelle in einem geeigneten Medium), sie ist zielorientiert und planvoll. Für die Phylogenese gilt jeweils das genaue Gegenteil, sie ist vor allem auch durch Auslese einer Überzahl weniger angepaßter Individuen und das Aussterben von Arten gekennzeichnet. Sieht man hinter beiden Prozessen Gottes Handeln, so wären die Methoden des Erschaffens daher grundverschieden. Kritisierenswert ist keineswegs die Auffassung, Gott bediene sich verstehbarer Vorgänge in seinem Handeln (wie der Ontogenese, deren Abläufe aber nur in manchen Aspekten verstanden sind), sondern die Vorstellung, die durch Auslese und Aussterben charakterisierte phylogenetische Entstehung der Arten könne eine Schöpfungsmethode Gottes sein. Im evolutionären Kontext erscheinen also Leid und Tod als Schöpfungsmittel und nicht als Gerichtsfolgen und -zeichen. Dadurch wird die Theodizee-Frage (Frage nach der Gerechtigkeit Gottes angesichts des Leides in der Welt) gründlich verschärft – ganz im Gegensatz zur Auffassung der Autoren (157). Die Verschärfung besteht darin, daß nach der biblischen Sicht das Widerwärtige in der Schöpfung mit der Sünde des Menschen zusammenhängt (s. u.), während es in der evolutionären Schau zum Wesen der Schöpfung abgesehen von der Sünde gehört.
Die Autoren verstehen Röm 8,19ff, wo es um das „Seufzen der Kreatur“ geht, als Anzeichen einer noch nicht fertigen Schöpfung (156). Der biologische Tod und die sonstigen „natürlichen Übel“ seien Zeichen dafür „daß die Welt noch nicht an ihr von Gott bestimmtes Ziel gekommen ist.“ (170) Diese Sicht ist jedoch in den Text hineingelesen. Der Text spricht von einer geschichtlichen „Unterwerfung“ in die „Knechtschaft der Vergänglichkeit“, also auch von einem „nicht mehr“ – für die meisten Ausleger eine Anspielung auf die Sündenfallgeschichte.
Kollision mit der Evolutionslehre vermeiden die Autoren weiterhin dadurch, daß sie dem ursprünglichen Menschen keine Vollkommenheit und Unsterblichkeit zuschreiben; beides sei nicht verliehen, nur verheißen worden. „Die Urgeschichte der Bibel beschreibt, wie die Verheißung durch den Ungehorsam des Menschen verlorengeht und doch nicht verlorengeht, weil Gott an ihr festhält“ (159). Was gilt nun? Verlorengegangen oder nicht verlorengegangen? Wenn sie nicht verlorengegangen ist, hat sich Gott als Lügner erwiesen. Seine Warnung wäre leer gewesen. Ist sie aber doch verlorengegangen: wie und wann soll sich das in der Evolution abgespielt haben? Was für einen Bezug zur Evolutionslehre gibt es? Wie soll man diesen Verlust im Rahmen der Evolutionslehre verstehen? Weiter schreiben die Autoren (160), dem Menschen sei ursprünglich eine heile Gottesbeziehung angeboten worden. Sie sei dadurch verlorengegangen, daß der Mensch selbst Gott sein wollte. Daher befinde sich der Mensch heute im Zustand des Verlustes; menschliche Schuld habe etwas mit diesem Verlust zu tun. Was soll aber „Verlust“ heißen, wenn es keinen historischen Sündenfall und kein „goldenes Zeitalter“ (wie die Autoren sich ausdrücken) gegeben hat? Wie soll sich dieser Verlust in der Evolutionsgeschichte ausgewirkt haben? Wie soll die ursprünglich heile Gottesbeziehung ausgesehen haben? Das sind unabweisbare Fragen, wenn man eine allmähliche Evolution vom Tier zum Menschen voraussetzt. Wenn unter diesen Voraussetzungen diese Fragen gar nicht erst gestellt werden, hat man die eigentlichen Probleme verschwiegen und umgangen. Kein Wunder also, daß die Autoren keine besonderen Konflikte mit dem Schöpfungsglauben sehen.
Die Autoren machen einen Unterschied zwischen dem Tod, der in Gottesferne erlitten wird und dem in vollkommenem Vertrauen auf Gott empfundenen Tod: „Für den ungefallenen, mit Gott verbundenen Menschen . . . wäre der biologische Tod wohl tatsächlich ein ‚Übergang‘, eine ‚Verwandlung'“ (167f.).
Ein „Tod“ des „Übergangs“, der „Verwandlung“ wäre offenbar etwas qualitativ anderes als das, was man gewöhnlich unter dem Tod versteht und fürchtet. Die eigentliche Problematik – woher kommt der „furchtbare“, schreckliche Tod – wäre gar nicht gelöst, nicht einmal angepackt. Die Autoren meinen dagegen, die Bitterkeit des Todes rühre vor allem daher, daß der Mensch das Ende seines Lebens nicht von seinem Schöpfer annehmen könne (169). Abgesehen davon, daß für diese Auffassung der Bibel kaum Stützen entnommen werden können, spricht die Art und Weise des Sterbens Jesu klar dagegen. Jesus ist elend (nicht nur körperlich elend) gestorben, obwohl er im Einklang mit dem Willen des Vaters starb. Am Kreuz Jesu werden alle positiven Vorstellungen über den Tod – auch den leiblichen – zunichte gemacht. Daß auch der leibliche Tod Feind Gottes ist, wird auch durch die leibhaftige Auferstehung Jesu unterstrichen, die das Neue Testament unmißverständlich als den großen Sieg Gottes feiert (vgl. z. B. 2 Tim 1,10; 1 Kor 15,20-26.54-57).
Außerdem muß man sich fragen, um Bezug zur Evolutionslehre zu nehmen, wie die letzten tierischen Vorfahren des Menschen den Tod empfunden haben sollen. Man kann entweder annehmen, daß sie wie die heutige Kreatur das Sterben als etwas Schreckliches empfunden haben (die Beute fürchtet sich nicht umsonst vor dem Räuber), oder man müßte postulieren, daß sie gar nichts empfunden haben, was das Sterbenmüssen betrifft. Als Gott dann bestimmte Tiere zu Menschen machte oder werden ließ, müßte dann der „Tod“ in einem plötzlichen Umschlag zunächst etwas Positives oder „Normales“ (eine angstfreie „Verwandlung“) gewesen sein, obwohl sich an der physisch-psychischen Konstitution gar nichts geändert hat.
Die Darlegungen der beiden Autoren laufen letztlich darauf hinaus, daß ein geschichtlicher Sündenfall abgelehnt wird. Da das Neue Testament die durch Jesus Christus erwirkte Erlösung als Reaktion auf dieses Ereignis versteht, wie in Röm 5,12ff. explizit und in vielen Worten und Taten Jesu implizit zum Ausdruck gebracht wird, resultiert aus der Ablehnung eines geschichtlichen Falles ein „neues Evangelium“, nämlich die Erlösung von den Unbilden und Nebeneffekten der Evolution (dem „noch nicht“, s. o.).
Eine Wissenschaft, die die Menschheitsgeschichte auf der Grundlage der biblischen Ur- und Heilsgeschichte zu rekonstruieren versucht (unglücklicherweise als „Kreationismus“ bezeichnet), lehnen die Autoren prinzipiell ab. Sie verweisen auf ungelöste Fragen der Schöpfungsforschung (davon gibt es tatsächlich viele, auch wesentliche), die sie als naturwissenschaftlich unlösbar hinstellen (208f.). Ob diese Fragen wirklich unlösbar sind, wird sich zeigen müssen. Selbstverständlich sehen die Autoren die Probleme im von ihnen bevorzugten Evolutionsmodell als lösbar an (Bsp. S. 44). Mit widersprechenden Daten verfahren also sowohl Schöpfungs- als auch Evolutionstheoretiker mit ähnlicher Strategie: Sie werden nicht als ausreichend angesehen, um die eigene Grundüberzeugung (für die man ja gute Gründe zu haben meint) preiszugeben. Hier spielen einfach persönliche Wertungen sperriger Befunde eine große Rolle.
Genauso muß die Kritik weitergegeben werden, die Schöpfungsforschung halte sich nicht an die Spielregeln der Naturwissenschaft, weil sie nicht nur empirische Befunde, sondern auch die biblische Überlieferung als maßgeblich für die Theorienbewertung betrachte. Diese Feststellung trifft zwar zu, die mit ihr verbundene Kritik ist jedoch aus zweierlei Gründen zu relativieren: Erstens sind in einer geschichtlichen Rekonstruktion nicht nur Indizien aus der Natur maßgebliche Informationsquellen, sondern auch schriftliche Dokumente. Die schöpfungstheoretische Rekonstruktion der Geschichte der Schöpfung hält nun einmal die biblische Urgeschichte für ein authetisches und relevantes Dokument. Zweitens ist mir kein überzeugter Evolutionstheoretiker bekannt, der seine Forschungen ernsthaft dazu einsetzt, seine eigene Anschauung zu Fall zu bringen. Auch Evolutionstheoretiker arbeiten nicht nur empirisch, sondern „evolutionistisch-empirisch“ (die Autoren bezeichnen die Methode der Schöpfungsforschung als „biblizistisch-empirisch“). Die Autoren übersehen, daß es nicht nur Daten („kritische Evidenz“) gibt, die im Schöpfungsmodell derzeit nicht erklärt sind, sondern ebenso solche, die dem Evolutionsmodell widersprechen. Es gibt zahlreiche Fälle, in denen im Vergleich der Theorien die Evolutionsforschung mit nicht-empirischen, metaphysischen Argumenten arbeiten muß, um ihre eigene Sichtweise zu stützen, wo die Schöpfungsforschung dies nicht nötig hat, z. B. im Falle der Erklärung der Regelhaftigkeit der Fossillücken; im Falle der Entstehung der ersten lebenden Zelle und der Informationsentstehung; im Falle der Evolutionsmechanismen, ebenso im Bereich der vergleichenden Morphologie; teilweise auch im Bereich der Kosmo- und Geowissenschaften.
Die Behauptung (S. 208), die Schöpfungslehre könne kein einziges Problem besser lösen als die Evolutionslehre, ist schlicht falsch und Ausdruck dessen, daß die Evolutionsanschauung nicht mehr hinterfragt wird. Schöpfungstheoretiker dagegen haben sich entschieden, die biblische Ur- und Heilsgeschichte nicht zu hinterfragen. Sie dürfen aber nicht in den Fehler ihrer evolutionsorientierten Kritiker verfallen und behaupten, alle wissenschaftlichen Fragen seien im Wesentlichen geklärt, sondern sollten ihre offenen Fragen beim Namen nennen, nicht zuletzt um zu verdeutlichen, daß der Glaube nicht auf der (Schöpfungs-)Wissenschaft, sondern auf dem Wort Gottes, der Bibel beruht.