Edith Düsing: „Nietzsches Denkweg“
Theologie - Darwinismus - NihilismusWilhelm Fink Verlag München 2006, 601 S.
Nachfolgend eine Rezension von Thomas Jeromin:
Aus „Ichthys“ Nr. 42, Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Arbeitskreises geistliche Orientierungshilfe im Theologiestudium (AgO), Marburg (www.agorax.de)
Ein in vielfacher Hinsicht außerordentliches Werk ist erschienen! Legt eure Griechischvokabeln, Predigtmeditiationen, Lehrwerke des Behaviourismus oder Einleitungsbücher einen Moment zur Seite und lest mit betendem Herzen und wachem Geist dieses Buch! Ein Buch, mit dem die Verfasserin uns inmitten einer der größten denkerisch-geistigen und zugleich geistlichen Kämpfe führt, der zugleich von höchster Aktualität ist! Das gilt nicht nur im wissenschaftlichen Bereich, sondern für viele Begegnungen des Alltags mit Menschen, denen historische Kritik, Evolutionismus und Nihilismus zum Normalglauben geworden sind, ja auch für den Kampf in unserem eigenen Herzen. Denn in Nietzsche haben wir einen in höchstem Maße mit Gott ringenden und zunehmend verzweifelnden Menschen vor uns, der die geistlichen und geistigen Verluste seines Lebens nicht gelassen hinnimmt, sondern der in tiefsten Qualen mit ihnen ringt. Zugleich ist die Verfasserin nicht nur vorzügliche Referentin Nietzsches und der Forschungen zu ihm, sondern nimmt die Leser mit hinein in dieses Ringen um Gründe und Motive seines Gottesverlustes.
Von der ersten bis zur letzten Seite dieses Textes wird der Leser von der Frage begleitet, wie er selbst in seinem Ringen vor Gott steht, vor dem lebendigen Gott, der in unserem Herrn Jesus Christus Fleisch geworden ist. Solch ein Nietzsche-Buch ist in dieser Weise etwas ganz und gar Neues. Zugleich gibt die Verfasserin damit zu erkennen, dass sie nicht nur jahrzehntelang in unermüdlicher Arbeit zu Nietzsche, seinen „Gegnern“ aus der idealistisch-christlichen Vergangenheit geforscht hat und uns hiermit eine reife Frucht aus Forschung und Lehre mitteilt. Sie kann uns auch deshalb so gut in die Tiefendimension des Ringens Nietzsches hinein führen, weil sie selbst dieses lebens- und geistesgeschichtliche Drama Nietzsche mit den Augen des Glaubens an Jesus Christus zu sehen vermag. Damit ist sie zugleich so nah bei Nietzsche wie keine zweite Deutung, nicht in dem Sinne, dass sie ihm in allem zustimmen würde – das weisen auch etliche klügere Nietzsche-Deuter vor ihr vehement zurück, sondern sie gibt uns den Schlüssel, wodurch es zu diesen grundstürzenden Umbrüchen in Nietzsches Denken und Leben gekommen ist und zu welchem Ende es letztlich geführt hat und führt. Gleichwohl geschieht dies nicht von oben herab, sondern als mit Nietzsche ringende Gesprächspartnerin. Damit ist sie aber eben auch nahe an den Problemen und Fragen, mit denen heute viele Menschen ringen. Der Rezensent schätzt sich glücklich, in dieser Hinsicht seit seinem Studium von Lehre und Forschung der Verfasserin zu profitieren. Gutes empfiehlt man gerne weiter, Hervorragendes umso mehr!
Nun wird der Rezensent sich hüten, dieses ganze Werk in wenigen dürftigen Zeilen zusammen fassen oder schon all dessen Geheimnisse verraten zu wollen wie die Entscheidungsfrage, auf die es zuläuft – das alles möge der geneigte Leser doch bitte selber erforschen. Tolle, lege! Denn schöner als die Bilder vom Gipfel anzuschauen ist es allemal ihn selber zu besteigen. Daher mögen einige kurze Hinweise genügen.
Die Verfasserin entfaltet in der Einleitung einen guten Überblick, um in gleicher Weise Experten wie Neulinge ins Thema einzustimmen und auf den Weg mit Nietzsche mitzunehmen. Besonders hilfreich ist hier eine meisterhafte Skizze von Nietzsches Denkentwicklung, die in nuce wichtige Entwicklungsstadien Nietzsches vorstellt und damit natürlich auch schon eine bemerkenswerte eigene Schwerpunktsetzung und Weichenstellung der Verfasserin deutlich macht: Sie nimmt für ihre Deutung den Ausgangspunkt Nietzsches, seine Kindheit und Jugend im Pfarrhaus bis hin zu seinem persönlichen Christusbekenntnis ernst. Erst daraus wird wirklich verständlich, warum Nietzsche solche abgründigen Verlusterfahrungen durchleidet. Er ringt dabei zunächst einmal als ein Mensch, der wieder festen Boden unter den Füßen sucht. Begonnen hat der Verlust mit der historischen Kritik der klassischen Autoren, die wie selbstverständlich bei den biblischen Schriften fortgesetzt wurde. Leidenschaftlich kämpft er danach gegen die leidenschaftslose historische Radikalkritik des David Friedrich Strauß, die seinerzeit die Theologie in helle Aufregung und emsige Apologetik versetzte. Für Strauß hat Nietzsche nur Verachtung übrig, er kämpft mit ihm und muss ihm dennoch irgendwann unterliegen. Mit denjenigen, die die Radikalkritik von Strauß durch eine „gemäßigte“ Kritik zu heilen versuchen, geht Nietzsche schonungslos ins Gericht; wer die biblischen Texte seziert, zerstört sie und vernichtet ihre Kraft und ihr Leben – die vermeintlichen Retter werden so zu leidenschaftslosen Buchhaltern des Unterganges des Christentums. Das Ringen um die historische Kritik, Nietzsches vielfach treffende Diagnosen und der damit gleichwohl verbundene Glaubensverlust lassen den Leser das Buch nur ungern aus der Hand legen, es sei denn, um den einen oder anderen begleitenden Blick in die Schriften Nietzsches zu werfen. Wer Theologie studiert (hat), sieht hier die ganzen Fragen der historischen Kritik bis in die Gegenwart meisterhaft diagnostiziert, dass einen nachdrückliches-engagiertes oder auch ganz pragmatisch-lustloses Beharren auf historischer Kritik heutzutage nur verwundern kann. An Nietzsche zeigt die Verfasserin zugleich: Eine gute, treffende Diagnose ist notwendige, aber noch nicht hinreichende Bedingung für eine angemessene und erfolgreiche Therapie.
Ein weiterer, für die Theologenschaft besonders denkwürdiger Schritt Nietzsches ist damit gegeben, dass Darwins Entwicklungslehre in sein Leben tritt. Die Verfasserin macht durch die Bezüge auf die evolutionäre Erkenntnistheorie und Ethik deutlich, dass bei Nietzsche in vielfältiger Weise die Schritte unserer Zeit vorweg genommen werden, die heute Stück für Stück zu Ende gedacht und dann auch praktiziert werden. Die auch von Theologen heute fast völlig selbstverständlich aufgenommene Evolutionslehre wird im Ringen Nietzsches in ihrer ganzen Tragweite deutlich: Der Verlust der Teleologie, der Ziel- und Zweckhaftigkeit unserer Welt, führt dazu, den Menschen nicht mehr an der Ebenbildlichkeit Gottes, sondern an der Tierwelt zu messen. Nietzsche diagnostiziert dabei nicht nur den Werteverfall, sondern wird zunehmend auch zum Propheten des Werteverfalls, der ihn voran treibt. Wieder erleben wir Nietzsche in der Darstellung der Verfasserin als Trauernden über das Verlorene, zugleich aber auch als unermüdlich und rücksichtslos vorwärts Schreitenden.
Gottesverlust, Gottesersatz, Tod Gottes und der vergöttlichte Mensch sind schließlich geboren aus einem leidenschaftlichen und völlig Kräfte zehrenden Kampf Nietzsches gegen Christus, Gott und das Christentum insgesamt, ein zutiefst verwundetes Abarbeiten an der Theodizeefrage und dem biblischen Hiob. „Ewige Wiederkehr“ wird Nietzsches Fels des Atheismus gegen die klassische abendländische Metaphysik und den christlichen Glauben.
Zu den Folgen für den Menschen schreibt die Verfasserin: „Das Ungültigwerden aller Maßstäbe, die nicht mehr um Urmaß des Guten geeicht sind, Gut, Böse, alles wird relativ, illustriert Nietzsche in seiner Bedeutungsschwere durch ein Auseinanderbrechen des Kosmos: paradox wird von ihm das ‚unendliche Nichts‘ beschworen, der Vorgang ist atemberaubend; es versagen die Kategorien der Beschreibung, die eine Auflösung von Allem in Nichts aussagen sollen; das Universum implodiert oder explodiert; existentiell geschieht, wie in Hölderlins Schicksalslied des Hyperion, ein unaufhaltsames heilloses und ungewisses Fallen ohne Halt“ (483).
Im Hinblick auf die letzte Schaffenszeit Nietzsches zeigt die Verfasserin auf dem Hintergrund des Darwinismus die letzten Konsequenzen auf, zu denen ein solches Denken führt: Weg von einem christlichen Ausgleich von starken und schwachen Menschen und Lebewesen der Schöpfung, ja von der Unterstützung für schwache Menschen weg hin zu einer bedingungslosen Vergötzung des starken und Verachtung alles schwachen Lebens. Biographisch begleitet wird diese Zeit durch den Kontrast einer irrsinnigen Selbstüberschätzung und seiner immer offener zutage tretenden geistigen und körperlichen Schwächen. Die Selbstdeutung sowie die rückblickende Einschätzung seiner Werke erreichen schwindelnde Höhen. Vom Anfang bis zum Ende räumt die Verfasserin dem Zusammenhang von Lebensdramatik und kämpfendem Werk bei Nietzsche einen sehr hohen Stellenwert ein. Ebenso gegenwärtig ist die Geistesgeschichte unter besonderer Berücksichtigung der Geschichte des christlichen Denkens und Glaubens, an der sich Nietzsche wund gerieben hat. Theologische Nietzscheforschung findet reichhaltig Beachtung.
Fazit: Ein ungewöhnlich und außerordentlich empfehlenswertes Werk, nicht nur für philosophisch, sondern auch theologisch und an treffender geistlicher Diagnose interessierte Leser.