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R. D. Precht: „Wer bin ich und wenn ja, wie viele – eine philosophische Reise“

Goldmann Verlag München, 2007

Nachfolgend eine Rezension von Henrik Ullrich:

Für deutsche Verhältnisse gelang Richard David Precht (Jg. 1964, promovierter Philosoph, Sachbuchautor und Wissenschaftsjournalist) etwas Außergewöhnliches. Mehr als 300 000 Exemplare seines Buches „Wer bin ich und wenn ja, wie viele – eine philosophische Reise“ (Goldmann Verlag München, 2007) wurden bis zum Sommer 2008 verkauft. Die Verkaufszahlen zeugen davon, dass der deutsche Durchschnittsleser auch im 21. Jahrhundert durchaus für philosophische Themen gewonnen werden kann. Sicherlich haben markante Werbesprüche wie der von Elke Heidenreich „Wenn Sie dieses Buch lesen, haben Sie den ersten Schritt auf dem Weg zum Glück schon getan“ viel zum kommerziellen Erfolg beigetragen. Weiter dürfte die an der Gegenwartssprache sich orientierende Ausdrucksweise des Autors und ein den Leser herausfordernder und zum Dialog einladender Stil geholfen haben, dass „Wer bin ich …“ nicht nur gekauft, sondern auch gelesen und heftig diskutiert wurde. Dabei stellt Precht zunächst seiner Zunft kein gutes Zeugnis aus. Philosophie darf sich nicht rückwärtsgewandt durch „langweilige ältere Herren in braunen oder blauen Busfahreranzügen“ (S.10) präsentieren, sondern muss gegenwartsbezogen sein. Zwar nutzt Precht selbst fast stereotyp immer wieder historische Details einzelner Persönlichkeiten, aber nur um aktuell diskutierte Brücken oder auch Gräben zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften anschaulich mit dem wahren Leben zu verbinden.

„Sollte es diesem Buch gelingen, beim Leser die Lust am Denken zu wecken und zu trainieren, wäre sein Ziel erreicht“ (S.17). Diese Erwartung des Autors dürfte sich erfüllt haben. Was jedoch die im Buch angebotenen Antworten angeht, sind die Reaktionen sehr unterschiedlich. Das Spektrum der Meinungen ist dabei sehr breit gefächert wie die Themen, an die sich Precht heranwagt. Gustav Falke klagt z.B. in der FAZ (7. 3. 2008): „Mit intellektueller Kreativität hat das offenbar wenig zu tun. … Trotzdem ist das Buch nicht nur überflüssig, sondern auch ärgerlich …“. Zu bestimmend sei die biologisch-naturwissenschaftliche Perspektive, wenn Precht auf die Grundfragen des Menschseins (Was kann ich wissen? Was ist Wahrheit? Was kann ich hoffen? Was soll ich tun?) nach Antworten sucht und sich allzu oft selbst nicht festlegt. Am anderen Pol steht die bereits erwähnte Elke Heidenreich: „Dieses Buch ist unverzichtbar.“

Ich möchte an dieser Stelle die öffentliche Debatte nicht fortsetzen. Deren Hauptaugenmerk liegt darauf, ob Precht mit seiner philosophischen Reise vor allem durch das Land der Hirnforschung tatsächlich „Eine Orientierungshilfe in der geradezu unüberschaubaren Fülle unseres Wissen vom Menschen“ (Solinger Morgenpost) auf einem angemessenen fachlichen Niveau liefern konnte oder nicht.

Grundpfeiler der Argumentation. Was mir bei der Lektüre des Buches auffällt, sind zwei durchgängig von Precht genutzte argumentative Grundpfeiler: Sicherheit in Bezug auf Evolution, Unsicherheit dagegen hinsichtlich des menschlichen Erkenntnisvermögens. Über deren Bedeutung wird im Hinblick auf die vom Autor vorgelegten Antworten leider viel zu wenig nachgedacht. Und das ist umso schwerwiegender, als beide Grundpfeiler mehrheitlich vertretene Rahmenbedingungen des Denkens unserer Zeit repräsentieren, obwohl sie einander ausschließen. Einerseits beruft sich der Autor fast in jedem Kapitel auf die über jeden Zweifel erhabene Überzeugung, dass Evolution als fundamentale Tatsache Ausgangspunkt philosophischer und theologischer Überlegungen sein müsse. „Die Kirche, vor allem in Deutschland, bekämpfte Darwin und seine Anhänger noch bis zum ersten Weltkrieg. Doch von Anfang an war klar, dass es nun kein freiwilliges zurück mehr zur früheren Weltsicht geben konnte. Gott als persönlicher Urheber und Lenker des Menschen war tot. Und die Naturwissenschaften feierten ihren Siegeszug mit einem neuen sehr nüchternen Bild des Menschen: Das Interesse an Affen wurde größer als das an Gott“ (S. 23). So unausweichlich, wie diese Überzeugung den möglichen Spielraum der Antworten auf die großen philosophischen Fragen vorgibt, so klar ist auch, dass andere Perspektiven bei Precht von vornherein chancenlos sind, wenn sie dem Paradigma Evolution den unterwürfigen Gehorsam verweigern.

Andererseits sind Prechts Argumentationen von einer immer wieder betonten Unsicherheit und Vorläufigkeit durchdrungen. Trotz (oder gerade wegen?) des selbst verordneten evolutionären Fundaments sind vielfältige, sich zum Teil ausschließende Erklärungsansätze der oben genannten vier Grundfragen, die Immanuel Kant stellte, gleichberechtigt möglich. Der daraus begründete Relativismus Prechts richtet sich folgerichtig gegen jede Form wissenschaftlich, philosophisch oder theologisch begründeter Absolutheitsansprüche – außer dem materialistisch-evolutionären.

„Was unserer Erfahrung nicht im vollen Umfang zugänglich ist, sollte nicht mit allzu viel Sicherheit allgemein verbindlich bestimmt werden. Mit diesem Argument haben auch viele Theologen jeden Gottesbeweis abgelehnt. … Für einen direkten Zugang zum Übersinnlichen ist unser Wirbeltiergehirn nicht geschaffen, … somit liegt es in der Natur der Sache, dass Gott nicht erkannt werden kann, sondern nur – wie auch immer – erfahren wird, oder eben nicht“ (S. 287). Diesen Relativismus steigert Precht am Ende des Buches in eine Art Abschied vom Gedanken an eine absolut existierende Wahrheit. Sein Agnostizismus orientiert sich an Lloyd Alexander, den er zur Sinnfrage des Lebens so zitiert: „Oft ist die Suche nach einer Antwort wichtiger als die Antwort selbst“ (S. 377).

Erschreckende Konsequenzen. Es liegt auf der Hand, dass ausgehend von den – in sich widersprüchlichen – Denkvoraussetzungen die angesteuerten Ziele der philosophischen Reise beim Leser z.T. Verwirrung hervorrufen müssen. Ganz im Sinne von Paul Feyerabends wissenschaftsphilosophischen Leitgedanken „Anything goes“ (Alles ist praktikabel) werden die Mitreisenden mit Unsicherheiten häufig hilflos zurückgelassen. Ich war darüber hinaus mehrfach erschrocken über einige ethische und moralische Wertvorstellungen, die Precht aus seinen evolutionären Fundamenten ableitete. An diesen Stellen könnte es dem Leser leicht entgehen, dass diese Wertvorstellungen in den sandigen erkenntnistheoretischen Böden vergeblich nach Halt suchen.

Ein Beispiel mag genügen, um dies zu illustrieren. Im Kapitel „Die Geburt der Würde – Ist Abtreiben moralisch“ (S. 184 ff) stellt Precht zunächst die Frage, was ein Embryo wert ist. Nach einem Streifzug durch die Geschichte der Moralphilosophie liest man folgendes Fazit: „Das Recht auf Leben, sein Wert und seine Würde, beginnen also nicht beim Zeugungsakt. Es ist deshalb nicht einzusehen, warum Embryonen bis zum dritten Monat nicht abgetrieben werden dürfen“ (S. 195). Dass vornehmlich die katholische Kirche dem widerspricht und von der Verschmelzung von Ei und Samenzelle an jeden Menschen unter den unbedingten ausnahmslosen Schutz gestellt sehen möchte, basiere nicht auf rationalen Argumenten: „Sie beruft sich auf etwas Gefühltes, nämlich auf den Willen Gottes. Kurioserweise ist dieser Wille wandelbar“ (S. 193). Der Wille Gottes, wie ihn Precht verstanden haben will, sei ja durch päpstliche Festlegungen ständig abgewandelt worden und beruhe jetzt auf den Festlegungen von Piux IX aus dem Jahre 1869. Davor galten die ersten spürbaren Bewegungen des Fötus als Beginn der Beseelung, was viel naheliegender und intuitiver sei, als die jetzige „kontra-intuitive“ Regelung. Im Zusammenhang mit der Thematik, warum der Mensch sich scheut, andere Menschen zu töten, holt Precht zum nächsten erschreckenden Schlag aus: „Das grundsätzliche Verbot, einen Menschen aktiv zu töten, ist also nicht die Folge eines religiösen Dogmas von der „Heiligkeit“ des menschlichen Lebens. Vielmehr ist das Dogma die Folge einer stammesgeschichtlich tief verwurzelten Intuition“ (S. 207).

Fazit. Die von Precht gegebenen – durchaus im Kantischen Sinn als vernünftig zu bezeichnenden – philosophischen Antworten sind das traurige Resultat eines eklatanten Mangels an theologischen und biblischen Kenntnissen, gepaart mit den oben genannten Rahmenbedingungen seines widersprüchlichen Denkens. Biblischer Glaube wird subsummiert unter eine der vielfältigen intuitiven Formen von Auseinandersetzungen des Menschen mit seiner Umwelt. Der Religion als „gefühlte Erfahrung“ bleibt daher lediglich „die Übersetzung von Intuitionen in Bilder und Gebote“ (S. 194). Die Bibel als Informationsquelle göttlicher Gedanken zu bezeichnen, sei deshalb veraltet und nicht in unsere Zeit passend.

Solange der Mensch vor der Möglichkeit flieht, Gott durch den Glauben zu erkennen, wird ihm Jesus Christus als Person, als Handelnder und als maßstabsetzende Autorität fremd und unbedeutend bleiben. Auf sich selbst geworfen ringt er um Antworten, an deren Ende Beziehungslosigkeit und Unverbindliches stehen. „Wer bin ich und wenn ja, wie viele“ ist ein Spiegelbild der soziokulturellen und intellektuellen Situation in Europa. Unseren Gott, den Schöpfer, Erretter, Richter und den Wiederkommenden auch im Zeitalter der Naturwissenschaften zu bekennen, ist ein wichtiger Dienst von Christen für unsere Zeit. Wie notwendig dieser im Bewusstsein der Werteinflation und ethisch-moralischen Sprachlosigkeit ist, macht das Buch von Precht schmerzlich deutlich. Diese Einsicht allein bleibt für mich ein Grund, seine philosophische Reise zur Lektüre zu empfehlen.