M. Denton (2016): „Evolution: Still a theory in crisis.“
Seattle: Discovery Institute PressNachfolgend eine Rezension von Reinhard Junker:
Inhalt
Einführung30 Jahre nach der Veröffentlichung seines vielbeachteten Werks „Evolution: A theory in crisis“ veröffentlichte der britisch-australische Biochemiker Michael Denton ein Nachfolgewerk. Schon der Titel macht deutlich, dass er seine im Jahr 1985 formulierte Kritik an Evolution bestätigt sieht. Die Hauptthese lautete damals: Die Natur ist im Wesentlichen diskontinuierlich. Das heißt: Höhere Taxa* und Taxa-definierende homologe* Merkmale sind deutlich abgrenzbar. Das zeigte Denton anhand von Befunden aus Paläontologie, vergleichender Biologie (Homologien), Molekularbiologie, Genetik und Biochemie. In seinem neuen Werk legt er dar, dass und warum sich nach seiner Einschätzung seine Hauptthese in den letzten 30 Jahren bestätigt hat. Trotz vieler neuer Erkenntnisse, vieler neuer Fossilfunde und zahlreicher neuer Untersuchungsmöglichkeiten hat sich an der Situation der Diskontinuität der lebenden Welt nichts nennenswert geändert. Wenn Denton Recht hat, ist das ein fundamentales Problem für die darwinistische Vorstellung von einer graduellen Evolution, die durch das Wechselspiel von zukunftsblinden Mutationen und gegenwartsbezogener natürlicher Auslese vorangetrieben wird.
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Strukturalismus und FunktionalismusDie Problematik für Evolution, die Denton in seinem Buch herausarbeitet, wird deutlich, wenn man zwei grundlegend unterschiedliche Sichtweisen auf die Biologie – Strukturalismus und Funktionalismus – einander gegenüberstellt. Mit dieser Gegenüberstellung steigt Denton in das Thema seines Buches ein. Die Lehre des Strukturalismus besagt, dass wesentliche Teile der Baupläne der Lebewesen durch grundlegende interne Zwänge oder durch physikalische Faktoren bestimmt sind. Die Strukturen sind primär. So bildet sich beispielsweise die Zellmembran allein durch physikalische Gesetzmäßigkeiten aus ihren hydrophoben (wasserabweisenden) Bestandteilen. Denton meint, das gelte für wesentliche Bestandteile der Lebewesen schlechthin; das Leben selbst sei ein „vorhersagbarer und notwendiger Teil des kosmischen Ganzen“ (15), kein Ergebnis zufälliger Konstellationen, wie es seit Darwin gesehen wird. Das gelte insbesondere für die Homologien, die die Bauplantypen bzw. höheren Taxa definieren wie z. B. Vogelfedern oder die Landwirbeltierextremität. Dagegen sind nach dem Funktionalismus die Funktionen der Organe primär. Diese Sicht ist für die (neo-)darwinistische Theorie grundlegend: Die Organe seien während der Evolution aufgrund funktioneller Notwendigkeiten durch kumulative Selektion und Anpassung entstanden – in vielen kleinen Schritten, wie Darwin betonte. Nicht physikalische Gesetzmäßigkeiten und innere Zwänge sind entscheidend, sondern von Beginn an und jederzeit Anpassung an die Umwelt und die Funktion des jeweiligen Organs (18f.). Der Gegensatz beider Anschauungen kann in einer Frage so gefasst werden: Bestimmt die Struktur die Funktion oder bestimmt die Funktion die Struktur? Dentons Buch ist ein Plädoyer für den Strukturalismus und somit eine Kritik des Darwinismus und der darauf aufbauenden neueren Synthesen. In diesem Punkt habe er selber seit Erscheinen seines Vorläuferbuches umgedacht und habe den Funktionalismus aufgegeben. Sein Hauptargument ist der bereits genannte Befund der Diskontinuität der Taxa-definierenden Merkmale (Homologien*). Denton legt dar, dass die wesentlichen Bauplan-Merkmale weder durch heutige funktionelle Erfordernisse verstanden werden können noch durch die Annahme, dass ursprünglich (bei ihrer Entstehung) ihre Funktion entscheidend war. Anhand von 10 Beispielen zeigt er in mehreren Kapiteln ausführlich, dass homologe, Taxa-definierende Organe von Anfang an diskontinuierlich auftreten und sich im Laufe der Zeit in ihrer Grundstruktur nicht wesentlich ändern. So seien beispielsweise die recht verschiedenen Ausprägungen des Knochengerüsts der Wirbeltierextremitäten – Flossen zum Schwimmen, Hände fürs Greifen, Flügel zum Fliegen usw. – Abwandlungen ein und desselben zugrunde liegenden Bauplans bzw. primären Musters, das weder heute noch zum Zeitpunkt seiner Entstehung alleine durch eine besondere funktionelle oder umweltbedingte Notwendigkeit erklärt werden könne (17). Anpassungsvorgänge und Selektion spielen nur eine untergeordnete Rolle bei der mikroevolutiven Feinabstimmung von Organen auf unterschiedliche Umweltbedingungen. Denton erläutert dies ausführlich am Beispiel der berühmten Darwinfinken, insbesondere ihrer Schnäbel (Kapitel 2).2 Das Auftreten von Neuheiten sei also nicht primär durch funktionelle Notwendigkeit begründet, sondern durch interne und naturgesetzliche Zwänge bedingt; nur deren spezielle Anpassungen könnten darwinistisch erklärt werden. Denton versteht sein Buch somit als „systematische Verteidigung der Typologie“ (28). Mit vielen Biologen des 19. Jahrhunderts ist er der Überzeugung, dass das Leben „ein integraler und gesetzmäßiger Teil der Natur ist und dass die Grundformen des Lebens in gewissem Sinne in die Natur eingebaut sind“ (28, 62). Die Taxa-definierenden „primären Muster“ seien durch eine Art Selbstorganisation aufgrund „besonderer Kategorien der Materie“ entstanden (29). Sie seien auf interne Kausalfaktoren zurückzuführen, die letztlich aus den Grundeigenschaften lebender Materie abgeleitet werden müssten, nicht auf das Wirken von äußerer Umweltselektion in einer langen Folge funktionaler Übergangsformen (115). |
WissenschaftsgeschichteMitte des 19. Jahrhunderts wurden die beiden konträren Sichtweisen des Strukturalismus und Funktionalismus vor allem durch zwei Forscher verkörpert: den bereits genannten Charles Darwin und Richard Owen. Darwin war mit seiner Selektionstheorie Funktionalist, Owen dagegen dezidierter Strukturalist. Die Geschichtsschreibung der Evolutionsbiologie sieht Darwin und seine Nachfolger als Sieger – nach Auffassung von Michael Denton vollkommen zu Unrecht. In Wirklichkeit habe sich die strukturalistische Sicht bewahrheitet. „Die Vorstellung, dass Darwin der Wissenschaftler war und Owen der Mystiker, dass Darwinismus wissenschaftlich ist, während das entgegengesetzte typologisch-strukturalistische Paradigma gleichsam mystisch und unwissenschaftlich sei, ist einfach Unsinn. In Wahrheit trifft das Gegenteil zu. … Wie kann ein Rahmenkonzept wie das von Owen, das Naturgesetze als Erklärungen für die Typen und die Entwicklung des Lebens zugrundelegt, unwissenschaftlich sein? Und wie kann die darwinistische Geschichte, die eine historische Erzählung ist, die eine Folge zufälliger Ereignisse beschreibt, ‚gerade wie Physik‘ sein?“ (29)3 Entsprechend kritisiert Denton die Wissenschafts-Geschichtsschreibung als unsachgemäß und verweist in diesem Zusammenhang auf den Wissenschaftshistoriker Ronald Amundson, der von einer „Synthesis Historiography“ sprach. Damit ist gemeint, dass sich die Geschichtsschreibung in dieser Frage nicht nach den Fakten richte, sondern nach dem Weltbild der evolutionären neodarwinistischen Synthese. Die nach Darwin übliche Darstellung, die Biologen vor Darwin hätten ihre Überzeugungen auf ihren metaphysischen Glauben gegründet, stelle jedoch die Realität auf den Kopf und sei ein Mythos, den die Neodarwinisten geschaffen hätten. Denn in Wirklichkeit hätten die Biologen vor Darwin ihre Sicht von Typen des Lebens als unveränderliche Bestandteile der Weltordnung gerade nicht aus metaphysischen Vorgaben abgeleitet, sondern aus empirischen Befunden. Darwin selbst hat eingeräumt, dass Taxa-definierende Homologien nicht durch aktuelle Umweltanpassungen verstanden werden könnten (s. u.). |
Dentons BelegeDenton führt mehrere Belege für seine Grundthese an. So könne wie bereits erwähnt die große Mehrzahl der Organismen in abgegrenzte und unverwechselbare Gruppen auf der Basis definierter Homologien oder Neuheiten eingeteilt werden, für die es keine Dokumentation einer kleinschrittigen Entstehung (wie von Darwin angenommen bzw. gefordert) gebe (44); dabei sei die Anzahl der Taxa-definierenden Homologien enorm (45). Dies zeigt er anhand einer Reihe von Beispielen vor allem aus dem Tierreich. Dem Einwand, es gebe doch zahlreiche intermediäre Formen, hält er entgegen, dass dies nicht für die Taxa-definierenden Homologien gelte (51, 108). Es gebe zwar Mosaikformen mit Kombinationen verschiedener Homologien (109); die Abgrenzbarkeit bezieht sich jedoch auf die einzelnen Homologien. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass eine hierarchische, baumartig darstellbare Ordnung der Lebewesen gar nicht möglich wäre, wenn Homologien nicht klar erkennbar wären und stabil erhalten blieben, denn sonst gäbe es überall ein chaotisches Netzwerk (52, 106). (Aufgrund der Existenz von Mosaikformen gibt es zwar tatsächlich viele netzwerkartige Ähnlichkeitsverknüpfungen, Denton meint hier aber offenbar, dass eine Baumstruktur überhaupt nicht möglich wäre, wenn Homologien als solche überhaupt nicht stabil wären.) Auch unter Berufung auf zeitgenössische Biologen zeigt Denton, dass ohne typologische Herangehensweise keine Systematik betrieben werden kann (53). Des Weiteren verweist Denton darauf, dass viele heutige Biologen einräumen, dass eine Erklärung für das Auftreten evolutionärer Neuheiten fehle (57f.). Er kommt zum Schluss: „Kurz gesagt ist die Natur nach wie vor sehr deutlich ein empirisches Diskontinuum unveränderlicher einzigartiger Formen und es gibt keine direkten Hinweise darauf, dass die ‚Lücken‘ jemals durch ununterbrochene funktionelle Stufen geschlossen waren, wie das durch die Darwin‘sche Theorie gefordert wird“ (59).4 Dass die Ordnung der Lebewesen nicht durch die Funktionen ihrer Organe begründet ist, belegt Denton weiter ausgerechnet mit einem Zitat von Darwin selbst: „Man könnte meinen (und tat es in alten Zeiten auch wirklich), daß diejenigen Teile der Organisation, die die Lebensgewohnheiten und die allgemeine Stellung der Geschöpfe im Lebenshaushalt bestimmen, für ihre Einteilung besonders wichtig seien. Aber nichts ist falscher als das. … Als allgemeine Regel kann sogar gelten: Je lockerer die Beziehungen eines Körperteils zu den besonderen Lebensgewohnheiten eines Geschöpfes ist, desto wichtiger ist er für die Klassifikation.“5 Dieses Zitat besagt, dass nicht die Umweltanpassungen bestimmend für die Klassifikation sind, sondern andere, nicht-adaptive* Merkmale – ganz im Sinne des Strukturalismus und entgegen Darwins Betonung von kleinschrittigen Umweltanpassungen, auf deren Weg die Arten und höheren Taxa entstanden seien. Denton illustriert diese Situation am Beispiel des Musters des Knochengerüstes der Landwirbeltier-Extremitäten. Dessen besonderes, gleichförmiges Muster könne nicht auf eine spezifische adaptive Funktion zurückgeführt werden, was bereits Owen betont habe. Owen bezeichnete solche Strukturen als Primärmuster („primal patterns“). Diese dienen laut Owen zwar dem Zweck eines allgemeinen Grundplans, aber sie sind und waren zu keiner Zeit Anpassungen spezifischer Organismen an spezifische funktionelle Erfordernisse, sondern sind Ausdruck innerer Zwänge und von Naturgesetzmäßigkeiten (66). Deren Natur konnte Owen allerdings nicht aufklären, wie er im letzten Kapitel von „On the Nature of Limbs“ einräumte; in irgendeiner Weise bildeten sie für ihn einen transzendenten Zweck eines göttlichen Geistes ab (68). Auch hier hat Darwin selbst seinen Gegenspieler bestätigt, indem er für die gegenwärtigen Homologien einräumte, dass sie nicht durch ihre Funktion verstehbar seien: „Nichts könnte hoffnungsloser sein als der Versuch, dieses Ähnlichkeitsmuster … durch dessen Nutzen oder durch die Lehre von Finalursachen [auf Ziele gerichtete Ursachen] zu erklären.“6 Dennoch legimitierte Darwin seine Sicht, dass die Strukturen der Lebewesen durch ihre Funktionalität erklärbar seien, indem er behauptete, dass sie ursprünglich – zum Zeitpunkt ihrer evolutiven Entstehung – aus funktionalen Gründen entstanden seien. Die damaligenFunktionen seien mittlerweile (teilweise) verlorengegangen; viele Taxa-definierende Homologien seien Überbleibsel der Evolution (73). Doch diese Argumentation ist offensichtlich Folge der Vorgabe einer evolutionären Spekulation und eine ad-hoc-Annahme, nicht durch empirische Befunde begründet. Denn Darwin zeigte nicht, weshalb z. B. die fünf Finger der Wirbeltierextremität oder die Anzahl der Kronblätter der Blüten eines Taxons und viele andere markante homologe Merkmale ursprünglich eine adaptive Antwort auf damalige Umweltbedingungen waren. Gemeinsame Abstammung könne eine Erklärung dafür sein, weshalb alle Arten eines Taxons ein homologes Merkmal teilen, so Denton, nicht aber, dass diese Homologie aus funktionellen Gründen durch Anpassung beim gemeinsamen Vorfahren entstanden sind (74f.). Genau das habe Darwin in Origin of species fehlinterpretiert. Für die Behauptung, dass Taxa-definierende Homologien ursprünglich adaptiv waren, gebe es keinerlei empirische Basis, sondern sie sei nur Ausdruck der panadaptionistischen Anschauung des Funktionalismus. Die weitere Hilfsannahme, homologe Merkmale seien anfangs noch formbar („fluid“) gewesen, wirft die Frage auf, warum sie nicht formbar blieben und was sie fixiert hat. Wie kam es von „evolvierbar“ (formbar) zu „unveränderlich“? (79) Anfangs müssten diese Merkmale variabel und für irgendwelche (unbekannten) Funktionen angepasst gewesen sein, bevor sie fixiert wurden und sich anschließend trotz Änderungen der Funktion nicht mehr grundlegend änderten. |
Evo-DevoEnorme Stabilität über evolutionäre Zeiträume wurde völlig überraschend auch im molekularen Bereich entdeckt, und zudem in großem Umfang: Gene, Gen-Verschaltungen und Entwicklungsmodule sind in auch entfernt verwandten Taxa hochkonserviert, d. h. auch bei entfernter Verwandtschaft kaum verschieden – das ist eine der größten Überraschungen der neueren biologischen Forschung (85f.) und hat eine neue Forschungsrichtung der Evolutionsbiologie begründet: „EvoDevo“ („evolution and development“), Evolution durch Änderungen der Abläufe während der individuellen Entwicklung. Aus der Sicht des Adaptionismus war explizit das Gegenteil erwartet worden: Homologien bei Genen sollte es nur bei relativ nahe verwandten Formen geben. Anhand der genetischen Grundlagen der Bildung von Rücken- und Bauchseite, des fünfgliedrigen Insektenbeines, des Insektenflügels und der Segmente von Hundertfüßern zeigt Denton überzeugend, warum eine schrittweise Evolution dieser Module mitsamt ihren ontogenetischen* Regulationsprozessen praktisch ausgeschlossen ist (93). Erschwerend für den funktionalistischen Ansatz kommt hinzu, dass das Fünf-Segmente-Muster der Insektenbeine bei verschiedenen Gruppen ontogenetisch auf sehr verschiedene Weisen gebildet wird (94; weitere Beispiele dieser Art auf S. 270f.). Welchen adaptiven Wert sollte dies haben? Selektion könne bei der Entstehung dieses charakteristischen Bauplanmoduls nur eine periphere Rolle gespielt haben. Gerade die Evo-Devo-Forschung habe gezeigt, dass evolutive Neuheiten nicht durch sukzessive Anpassungsschritte entstanden seien (was auch manche Evo-Devo-Forscher selbst sagen) (96). Vielmehr hätten – so Denton – interne kausale Faktoren eine vorrangige Rolle gespielt; Denton identifiziert diese Faktoren allerdings nicht genauer; vielmehr scheint für Denton nur eine strukturalistische Deutung übrig zu bleiben, da die funktionalistische regelmäßig nicht überzeugt (s. u. unter „Kritik“). Er schreibt dazu: „Nach dieser Sicht konnten die größeren Neuheiten, die durch Evolution verwirklicht wurden, nur auftreten, wenn sie mit einer präexistenten inneren ‚Entwicklungslogik‘ des Organismus verträglich waren“ (97).7 Größere Innovationen benötigten umfangreiche Entwicklungsänderungen, die sprunghaft erfolgen müssen (98); die Erklärung dafür müsse jenseits einer stufenweisen Entstehung im Sinne des Funktionalismus liegen (99). „Diese Veränderung ist ein Meilenstein in der Geschichte der Biologie, weil die Auffassung, dass innere Kausalfaktoren die Wege der Evolution erzwungen haben, exakt dem strukturalistischen Paradigma entspricht und einen definitiven Schritt weg vom klassischen Darwinismus bedeutet“ (99).8Entwicklungszwänge würden auch hier durch die natürlichen Gegebenheiten, nicht durch die evolutive Vorgeschichte gesetzt. In den Kapiteln 7-10 widmet sich Denton auf ca. 100 Seiten recht ausführlich wie oben bereits erwähnt zehn ausgewählten Beispielen von Taxa-definierenden Homologien verschiedener Art. Es handelt sich um die grundlegenden Merkmale der Zelle, die kernlosen roten Blutkörperchen, die endometrische Stromazelle der Säuger-Plazenta, proteincodierende Gene, die Angiospermenblüte und die doppelte Befruchtung bei Angiospermen, das Wirbeltierbein, die Vogelfeder, den Fledermausflügel, den Lebenszyklus des Aals und die menschliche Sprache zusammen mit geistigen Fähigkeiten des Menschen. Bei allen diesen z. T. sehr verschiedenen Beispielen ist eine Entstehung durch eine Folge kleiner adaptiver Schritte sehr unwahrscheinlich, und Denton zeigt dies durch detaillierte Analysen. Selbst das eher einfach erscheinende Beispiel der Kernlosigkeit der Erythrozytenzellen erfordert umfangreiche aufeinander abgestimmte Änderungen. In allen Fällen zeigt Denton anhand verschiedener Aspekte: Die betreffenden Strukturen erscheinen sprunghaft, sie sind das Resultat hochintegrierter, neuer „Garnituren“ von Entwicklungsprozessen, ein allmählicher Aufbau über funktionale Stufen ist sehr unwahrscheinlich, und für wesentliche Aspekte des jeweiligen Bauplans sind funktionelle Gründe unklar, auch wenn natürlich die „fertigen“ Organe bzw. Zellen als Ganze funktional sind. Denton schließt beispielsweise den Abschnitt über die Vierbeiner-Extremität: „Owen betrachtete den Bauplan der Gliedmaßen als abstrakte Form, die irgendwelche funktionellen Besonderheiten transzendierte. Keine Entdeckung der letzten 160 Jahr hat diese Sicht entkräftet“ (169).9 Die zehn Beispiele lesen sich allesamt spannend und es wird in allen Fällen deutlich, dass viele Aspekte aufeinander abgestimmt sein müssen, sodass deren schrittweise Entstehung über jederzeit funktionale Zwischenstufen extrem unwahrscheinlich ist. |
Trends und KonvergenzenUnterstützung erfährt die strukturalistische Sicht auch durch das Auftreten komplexer Konvergenzen*, deren Zahl durch den Fortgang der Forschung beständig steigt. Selbst Schlüsselmerkmale wie die drei Gehörknöchelchen der Säugetiere sind im System der Lebewesen so verteilt, dass mehrfache unabhängige Entstehung angenommen werden muss – für Denton kann „kaum die Schlussfolgerung vermieden werden, dass interne Faktoren eine wichtige Rolle dabei gespielt haben, dass die Evolution dieser Organsysteme zu so ähnlichen Zielen hingezogen wurde“ (237); äußere kleinschrittige Anpassung an Umweltbedingungen erklären die Befunde nicht. Ebenso wertet Denton Trends in den evolutionär interpretierten Fossilabfolgen als Hinweise auf interne Faktoren; es sei kein Wunder, dass viele Paläontologen solche Trends als Beispiele einer Orthogenese, also einer gerichteten Veränderung, interpretiert hätten (243). Adaptive Gründe seien dafür nicht plausibel zu machen, denn wie solle es beispielsweise adaptiv verstanden werden, dass einerseits viele Meeres-Wirbeltiere ihre Hinterbeine beibehalten, andere dagegen verloren haben? |
KritikDentons Grundthese lautet: Das Leben und seine Bauelemente sind integrale Bestandteile der Natur bzw. der kosmischen Ordnung und entstehen wie die Atome oder Kristalle letztlich aufgrund der Eigenschaften der Materie mit Notwendigkeit (z. B. 245, 248, 251, 273, 275, 276). Die Homologien sind stabile Basisbausteine (270-272), vergleichbar mit den chemischen Elementen des Periodensystems. Mindestens einige der höheren architektonischen Bestandteile des Lebens resultieren aus den selbstorganisierenden Eigenschaften der Materie (273). Denton ist sich dessen bewusst, dass manche Leser ihre Zweifel an dieser These haben werden und versucht sie mit einer Analogie zu untermauern: Schon ein Wassertropfen, der auf eine ruhige Wasseroberfläche fällt, könne aufgrund der Gesetzmäßigkeiten der Natur ungewöhnliche Formen hervorbringen. Seine Lektion: Wenn Wasser unter der Wirkung der Naturgesetze in so viele verschiedene natürliche Formen versetzt werden kann, könne man kaum die Möglichkeit von der Hand weisen, dass komplexe, unerwartete, emergente Formen – von Molekülen bis zu ganzen Organismen – ebenso durch die Wirkung natürlicher Gesetzmäßigkeiten in biologischen Systemen entstünden (274). Diese Argumentation ist allerdings höchst fragwürdig. Denn den anorganischen Beispielen fehlt eine entscheidende Eigenschaft, die Strukturen von Lebewesen aufweisen: funktionale Komplexität. Lebewesen machen sich aktiv die Naturgesetzmäßigkeiten zunutze; sie sind mit Möglichkeiten ausgestattet, dies tun zu können. Ihre Organe und ihr ganzer „Betrieb“ arbeiten den natürlichen Zerfallstendenzen entgegen. Gerade der Vergleich mit den Formen des Wassers, den Denton nutzt, macht den wesentlichen, grundlegenden Unterschied deutlich: Diese anorganischen Formen sind kurzlebig, ohne eigenen Zweck und den Naturkräften völlig ausgeliefert, sie können sich nicht selbst aufrechterhalten wie das die Lebewesen oder ihre Organe tun können. Auch das eingangs genannte Beispiel des Selbstaufbaus der Zellmembran lässt sich nicht ohne weiteres auf die Entstehung Taxa-definierender Homologien anwenden, weil es sich um sehr verschiedene Konstellationen handelt. Wie bereits angemerkt bleibt vage und unklar, inwiefern die Grundstrukturen der Lebewesen eine Folge von Gesetzmäßigkeiten und internen Zwängen seien, sprich wie diese die Strukturen der Lebewesen hervorbringen. Denton zeigt mit vielerlei Argumenten und gut begründet, dass kleinschrittige Anpassungen keinen Weg zu den Basisstrukturen des Lebens ebnen, da zahlreiche morphologische, physiologische und genetische Änderungen en bloc neu auftreten und aufeinander abgestimmt sein müssen (vgl. 182-184), und dass somit die (neo-)darwinistische Erklärung nicht zielführend ist. Aber die strukturalistische Alternative bleibt im Ungefähren. Gelegentlich spricht Denton von „Vor-Arrangements“ oder Prädispositionen, die es ermöglicht hätten, dass neue Taxa-definierende Homologien sprunghaft auftreten können, zum Beispiel bei der Entstehung der menschlichen Sprache. Denton schreibt dazu unter Berufung auf den Primatologen und Paläoanthropologen Ian Tattersall: „Das Gehirn subhumaner Primaten war schon ‚prädisponiert‘ für die Selbstorganisations-Übergangsphase zu abstraktem Denken und symbolischer Bezugnahme. … Tattersall bekennt, dass es ein Geheimnis sei, weshalb das Primatengehirn derart vorgeformt gewesen sei“ (204).10 Nur wenn die Natur speziell bzw. gezielt („specifically“) vor-arrangiert war für die Verwirklichung von Neuheiten, sei deren sprunghafte Entstehung denkbar (226). Aber woher kommt dann dieses Vor-Arrangement? Denton schreibt über die Typologie-Vertreter des 19. Jahrhunderts, dass sie das Leben zwar als Resultat von Gesetzen und in diesem Sinne als „natürlich“ betrachteten, diese Gesetze aber als kausale Agenten innerhalb eines teleologischen Rahmens interpretierten. So sah Owen die Natur als Ergebnis von Design an, glaubte aber, dass Gott Naturgesetze gebrauchte, um seine Ziele zu erreichen (40). Dentons Kritik am funktionalistischen Ansatz erscheint zwar gut begründet, doch kann er seinen strukturalistischen Ansatz genau so wenig empirisch begründen. Seine Kritik spielt jedoch dem Schöpfungsdenken in die Karten und die von ihm vorgetragenen Befunde können als klare Hinweise auf einen Schöpfer gewertet werden, so wie es die Typologen (wie Cuvier, Owen und von Baer) im 18. und 19. Jahrhundert vertreten haben. |
Glossar
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